Jagic, Vatroslav (eigentlich Ignaz) von, kroatischer Slawist, * Varaždin 6.07.1838, † Wien 5.08.1923, Sohn des Stiefelmachers Vinko und der Ana J.
Leben
Auf Drängen der Mutter, die ihres Ältesten Talent erkannte, durfte J. das Gymnasium in Varaždin und ab 1851 in Zagreb besuchen. 1856 begab er sich mit Hilfe eines Stipendiums zum Studium der Altphilologie nach Wien. Vom dritten Semester an hörte J. Vorlesungen bei Franz von Miklosich, des öftern war er noch bei Vuk Karadzic zu Gast. Nach bestandener Lehramtsprüfung wirkte J. 1861-1870 am Zagreber Gymnasium, wo seit 1861 auch seine ersten wissenschaftlichen Arbeiten erschienen. Diese Beiträge zur serbokroatischen Literatur und altkirchenslawischen Sprache bilden die ältesten von den über 600 Titeln seines Gesamtwerkes, entstanden in 60jähriger slawistischer Tätigkeit. Sie wurden in den drei Jahrgängen des „Književnik“ (1864 bis 1866) veröffentlicht, der ersten kroatischen Zeitschrift streng wissenschaftlichen Charakters, die von J. zusammen mit Franjo Rački und Josip Torbar herausgegeben wurde. In Zagreb begann auch seine wissenschaftliche Korrespondenz, die persönliche Beziehungen zu allen Fachkollegen knüpfte und im Laufe seines Lebens einen Umfang erreichte, der noch heute nicht vollständig zu übersehen ist. Bei Gründung der Jugoslawischen Akademie 1866 gehörte der 28jährige J. schon zu ihren ersten 16 Mitgliedern; seine Veröffentlichungen im „Rad“ und den „Starine“ konzentrierten sich allmählich auf die Edition südslawischer Literaturdenkmäler. Die Zagreber Jahre endeten zwar am 7. Juni 1870 wegen einer politischen Demonstration mit J.s fristloser Entlassung aus dem Schuldienst, doch öffnete ihm dieser Vorfall den Weg in die Welt. Der russische Slawist Izmail Ivanovič Sreznjevskij rettete J. aus seiner prekären Lage. Er berief ihn nach Rußland. J. erhielt im November 1870 von der Petersburger Universität den Doktortitel und im März 1871 die Ernennung zum Professor der indogermanischen Sprachen in Odessa. So reiste J. im Oktober nach Leipzig, wo er bei August Leskien promovierte, und weiter nach Berlin, um bei Alfred Weber Sanskrit zu hören. Im Januar 1872 traf er in St. Petersburg ein, um seine Russischkenntnisse zu verbessern. Die zwei Jahre in Odessa vom Sommer 1872 bis 1874 waren jedoch schwierig. So erkrankte J. schwer an Typhus und litt unter den provinziellen Verhältnissen an der Universität. Deshalb nahm er 1874 einen Ruf an den neugegründeten Lehrstuhl für slawische Sprachen und Literaturen in Berlin an, obgleich die ebenfalls 1874 gegründete Universität Zagreb auf J. als Slawisten hoffte. Da er jedoch überzeugt war, von Berlin aus dem Slawentum mehr nützen zu können als daheim, nahm er für seine Entscheidung die Polemiken der „bornirten slavischen Publicistik“ in Kauf. In Berlin gründete J. 1875 das „Archiv für slavische Philologie“, freilich erst mit Theodor Mommsens Hilfe. Die Zeitschrift ist J.s größte organisatorische und pädagogische Leistung. Er baute sie im Laufe von 45 Jahren zum dominierenden Organ der Slawistik aus, aber auch zu einem persönlichen Machtinstrument, dessen oberste Devise dennoch unbestechliche Objektivität und politische Enthaltsamkeit war. Auf die Redaktion bis Band 37 (1920) hat J. nach eigener Aussage die besten Stunden seines Lebens verwendet. Die Berliner Tätigkeit endete 1880 mit J.s Berufung nach St. Petersburg als Nachfolger seines Gönners Sreznjevskij. In den sechs russischen Jahren bildete J. eine ganze Reihe russischer Slawisten in westlichem Geist heran, während er als Forscher - wie bereits 1872 die örtlichen Bibliotheken mit ihren Reichtümern nutzte. Nicht zufällig fußen J.s Hauptwerke, die kritischen Ausgaben kirchenslawischer Texte, auf russischen Handschriften. Aus vorwiegend familiären Gründen verließ J. St. Petersburg, als er 1886 zum Nachfolger Miklosichs nach Wien berufen wurde. Seine letzte Professur hatte J. 22 Jahre lang - bis 1908 - inne. Die Gründung eines slawischen Seminars, die eifrige Forschungstätigkeit seines Vorstandes auf nahezu allen Teilgebieten der Slawistik, die vielen Schüler und Hörer nicht nur aus der Monarchie führten die Wiener slawistische Schule ihrem Höhepunkt entgegen und krönten seine Lebensarbeit. J. wurden viele Ehrungen zuteil: Nach Miklosichs Tod im Jahre 1891 wurde er in das Herrenhaus berufen und anläßlich der Emeritierung 1908 zum Hof rat ernannt und in den erblichen Adelsstand erhoben; zudem war er Mitglied zahlreicher Akademien und Träger des Ordens „Pour le merite“. J. ist ohne Zweifel der größte slawische Philologe der zweiten Hälfte des vergangenen Jh.s. Natürlich erweisen sich einige seiner Editionen als revisionsbedürftig, manche seiner Theorien waren unrichtig, doch im allgemeinen steht die Slawistik von heute, 50 Jahre nach seinem Tod, noch immer auf den von ihm geschaffenen Fundamenten.
Literatur
Jagić-Festschrift. Zbornik u slavu Vatroslava Jagića. Berlin 1908.
Jagić, Vatroslav: Spomeni mojega života. 2 Bde. Beograd 1930/34.
Murko, Matija: Rozpravy z oboru slovanské filologie. Praha 1937.
Jagić, Vatroslav: Izabrani kraći spisi. Hrsg. Mihovil Kombol. Zagreb 1948 (mit Bibliographie).
Jagoditsch, Rudolf: Die Lehrkanzel für slavische Philologie an der Universität Wien 1849-1949. In: Wiener slawistisches Jahrbuch 1 (1950) 1-52.
Barac, Antun: Vatroslav Jagić als Literarhistoriker. In: Münchner Beiträge zur Slavenkunde. Festgabe für Paul Diels. Hrsg. Erwin Koschmieder und Alois Schmaus. München 1953, 201-213.
Angyal, Andreas: Vatroslav Jagić und seine Zeit. In: Deutsch-slawische Wechselseitigkeit in sieben Jahrhunderten. Eduard Winter zum 60. Geburtstag dargebracht. Berlin 1956, 579-636.
Filić, Krešimir: Lik V. Jagića. Varaždin 1963.
Pohrt, Heinz: V. Jagićs Promotion an der Universität Leipzig 1870/1871. In: Zeitschrift für Slawistik 12 (1967) 240-247.
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