Jászi, Oszkár, ungarischer Publizist und Politiker, * Nagykároly 2.03.1875, † Oberlin/Ohio 13.02.1957, Sohn eines Arztes aus einer armen jüdischen Familie aus Eperjes und einer Arzttochter aus Debreczin, 1913-1920 verheiratet mit der Dichterin Anna Lesznai (1885-1966).
Leben
J. absolvierte die Volksschule und das Gymnasium in seiner Heimatstadt, studierte dann auf Wunsch seiner Familie Jura an der Budapester Universität. Er dehnte dabei sein Studium auch auf die Philosophie aus. Anschließend war er zehn Jahre lang als Referent im Landwirtschaftsministerium tätig, bis ihn seine öffentlichen Tätigkeiten in Konflikt mit den amtlichen Stellen brachten und diese ihn zur Aufgabe des Staatsdienstes veranlaßten. Während des Studiums hatte sich ein großer Freundeskreis um J. gebildet, in dem sich gemeinsame kulturelle, politische und soziale Bestrebungen und nicht zuletzt starke Interessen für die Soziologie entwickelten. J. war zuerst Anhänger der positivistischen Soziologie Herbert Spencers. Um das soziologische Denken einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, gründete er im Januar 1900 die Zeitschrift „Huszadik Század“ (Zwanzigstes Jahrhundert) und ein Jahr später die „Soziologische Gesellschaft“ (Társadalomtudományi Társaság). Unter der Führung J.s entfaltete sich aus dem inneren Kern der Gesellschaft und den engeren Mitarbeitern der Zeitschrift der ungarische „bürgerliche Radikalismus“, der sich „die Abschaffung der feudalen Privilegien, Gleichheit vor dem Gesetz und Volksvertretung anstelle der ständischen Verfassung“ zum Ziel setzte. Diese Änderungen sollten unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf evolutionärem Wege erreicht werden. Die wissenschaftliche Grundlage für diese bürgerlich-demokratischen Forderungen wurden durch sozio- graphische und verwandte Forschungen gelegt. Probleme der Nationalitäten-, Finanz-, Agrar- und Schulpolitik wurden angegangen. J. verteidigte in zahlreichen Publikationen gegen Großgrundbesitz und Großkapital die Interessen des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft. Das Neue an seinem Konzept war die Zusammenfassung der nationalen und sozialen Probleme in eine einheitliche Zielsetzung. Seine spätere Abkehr von Spencer erfolgte unter dem Einfluß des Marxisten Ervin Szabó, mit dem ihn trotz vieler Gegensätze eine tiefe Freundschaft verband. Der Auseinandersetzung mit dem Marxismus ist J.s großes Werk „A történelmi materializmus állambölcselete“ (Die Staatsphilosophie des historischen Materialismus, Budapest 1903, 2. Aufl. ebd. 1908) zu verdanken.
1904 erschien J.s von der Akademie preisgekrönte Arbeit „Művészet és erkölcs“ (Kunst und Moral), die er 1908 unter Berücksichtigung des historischen Materialismus in 2. Auflage neu bearbeitet hat. 1905 bekam J. ein Stipendium für einen sechsmonatigen Aufenthalt in Paris, wo er sich immer mehr einem revolutionären Standpunkt näherte. Seine Eindrücke faßte er in dem in der Zeitschrift „Huszadik Század“ noch im selben Jahr veröffentlichten Artikel „Kulturális elmaradottságunk okairól“ (Über die Gründe unserer kulturellen Rückständigkeit) zusammen. Am 29. August 1905 wurde mit J.s Beteiligung die „Liga für allgemeines und geheimes Wahlrecht“ (Az Általános és Titkos Választójog Ligája) gegründet, die er publizistisch stark förderte. Seine Vorstellungen zur Wahlrechtsfrage legte er in dem Artikel „Miért kell az általános titkos választójog?“ (Warum ist das allgemeine geheime Wahlrecht notwendig?), erschienen 1908 gleichfalls in der Zeitschrift „Huszadik Század“, nieder. Nach einem aussichtslosen Kampf suchte J. den Anschluß an bürgerlich-liberale Organisationen und wurde 1906 in die Freimaurerloge „Demokratia“ aufgenommen. Noch im selben Jahr gründete er nach französischem Muster die „Breie Schule der Gesellschaftswissenschaften“ (A Társadalomtudomány Szabad Iskolája), in der Kurse für Arbeiter abgehalten wurden. 1908 beteiligte er sich an der Gründung der sozialistischen „Martinovics-Loge“, aus der noch im selben Jahr die Initiative zur Gründung des „Galilei-Zirkels“ (Galilei-kör) für Studenten ausging. Der Zirkel genoß die Unterstützung der Lreimaurer, schloß sich aber auch an die „Soziologische Gesellschaft“ enger an. Seine Bemühungen um die wirksamste Plattform für die Vertretung seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen gipfelten 1914, kurz vor Kriegsausbruch, in der Gründung der „Bürgerlich-Radikalen Partei“ (Országos Polgári Radikális Párt). J. beschäftigte sich mit der Zeit immer mehr mit den ungarländischen Nationalitäten, mit der Problematik des nationalen Zusammenlebens im Donauraum. Wichtig für seine Gedanken sind folgende Veröffentlichungen: „Szabadkőművesség és nemzetiség“ (Freimaurertum und Nationalität, erschienen in „Progressio“ am 15.09.1911), „A nemzetiségi kérdés és Magyarország jövője“ (Die Nationalitätenfrage und die Zukunft Ungarns, 1911), „A nemzeti államok kialakulása és a nemzetiségi kérdés“ (Die Entstehung der Nationalstaaten und die Nationalitätenfrage, 1912), „A monarchia jövője“ (Die Zukunft der Monarchie, 1918) und „Magyarország jövője és a Dunai Egyesült Államok“ (Die Zukunft Ungarns und die Vereinigten Donaustaaten, 1918). Er entwarf hierbei den Plan für die Errichtung einer „östlichen Schweiz“. Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie wurde J. Nationalitätenminister ohne Portefeuille in der Koalitionsregierung des Grafen Mihály Károlyi (31.10.1918 bis 19.1.1919). Er nahm im November 1918 an den Waffenstillstandsverhandlungen in Belgrad sowie an den erfolglosen Verhandlungen mit den rumänischen Nationalitätenführern in Arad teil. Anschließend wurde er Professor für Soziologie an der Buda- pester Universität. Nach Ausrufung der Räterepublik emigrierte J. am 1. Mai 1919 nach Wien, wo er Chefredakteur der „Bécsi Magyar Újság“ (Wiener Ungarische Zeitung) wurde. 1924 ging er auf eine Vortragsreise nach Amerika und ließ sich in der College-Stadt Oberlin, im Staate Ohio, nieder. Hier erhielt er 1925 einen Ruf als Professor für Soziologie. Die wissenschaftliche Tätigkeit J.s umfaßte hernach drei große Gebiete: 1. Die Problematik der Nationalitätenfrage bei den Donauvölkern - vgl. die Werke „Magyariens Schuld, Ungarns Sühne, Revolution und Gegenrevolution in Ungarn“ (mit einem Geleitwort von Eduard Bernstein, München 1923) und „The Dissolution of the Habsburg Monarchy“ (Chicago 1929) -, 2. Die internationale Politik und die internationalen Organisationen und 3. Die politische Philosophie. Nur noch einmal, im Jahre 1947, gelang es J., sein Heimatland zu besuchen. 1953 verlieh ihm das College von Oberlin die Ehrendoktorwürde.
Literatur
Fukász, György: A magyarországi polgári radikalizmus ideológiájának történetéhez 1900-1908. Jászi Oszkár ideológiájának bírálata. Budapest 1960.
Horváth, Zoltán: Die Jahrhundertwende in Ungarn. Geschichte der zweiten Reformgeneration (1896-1914). Neuwied am Rhein, Budapest 1966.
Zobel, Olga: Ungarns Gesellschaft und Staat bei Oszkár Jászi. In: Ungarn-Jb. 3 (1971) 136-175.
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