Karadžić, Vuk Stefanović, serbischer Sprachforscher und -reformer, Volkskundler und Historiker, * Tršic 6.11.1787, † Wien 7.02.1864, aus bäuerlicher Familie.
Leben
K. lernte zuerst bei einem Verwandten, dann in Loznica und im Kloster Tronoša (bis 1798) lesen und schreiben; zur Zeit des ersten serbischen Aufstandes 1804 war er Schreiber des Woiwoden Djordje Čurcija, 1804-1806 war er in Karlowitz (Sremski Karlovci), um sich auf das Gymnasium vorzubereiten, das ihn jedoch wegen Überalterung nicht aufnahm. 1807 war er Schreiber am Sovjet in Belgrad, 1808 Hörer von Jevto Savićs Schule in Belgrad, 1809/10 in mehreren Orten zur Heilung einer rheumatischen Erkrankung, bis 1813 Zöllner in Kladovo und Negotin an der Donau und nach dem Scheitern des serbischen Aufstandes floh er nach Wien, wo er (mit vielen längeren Unterbrechungen) mit seiner deutschen Frau Anna (geb. Kraus) und seinen beiden überlebenden (von dreizehn) Kindern Mina und Dimitrije bis zu seinem Tode lebte. Ohne gründliche und abgeschlossene Schulbildung, aber mit schneller Auffassungsgabe und einem lernbegierigen, kritischen Geist ausgerüstet, war K. ein genialer Autodidakt, der nur der sachverständigen Anregung bedurfte, um seine reichen Talente selbständig und konsequent zu entfalten. Dieser Anreger und Freund wurde für ihn der Slowene Jernej Kopitar, Hofbibliothekar und Zensor für slawische Bücher in Wien, den er schon 1813 kennenlernte. Kopitar erkannte K.s Enthusiasmus, seine richtige Sprachauffassung und großen Kenntnisse der Volksdichtung und spornte ihn an, seine Gedanken über Orthographie und Sprache niederzuschreiben und serbische Volkslieder zu sammeln und herauszugeben. Das Ergebnis waren in den nächsten beiden Jahren drei kleine Bücher: „Pismenica serbskoga jezika“ (Grammatik der serbischen Sprache, Wien 1814), „Mala prostonarodna slaveno-serbska pjesnarica“ (Kleines serbisches Volksliederbuch, Wien 1815) und „Narodna srpska pjesnarica“ (Serbisches Volksliederbuch, Wien 1815). Das erste Liederbuch fand schon 1815 eine sehr positive Würdigung in einer Besprechung durch Jacob Grimm, der in den folgenden Jahrzehnten einer der einflußreichsten Förderer der Verbreitung und Anerkennung der südslawischen Volksdichtung im gelehrten Europa werden sollte. Seine von Avram Mrazovics slawenoserbischem „Rukovodstvo k slavenstěj grammatice“ (Anleitung zur slawischen Grammatik, 1794) und den Ideen Luka Milanovs und Sava Mrkaljs beeinflußte Grammatik ist die erste serbische Grammatik in der Volkssprache, in der K. seine Sprachauffassung darlegte. Sie wurde abgelöst durch die in ihren reformerischen Ideen konsequentere „Srpska gramatika“ (Serbische Grammatik), die 1818 in K.s „Srpski rječnik istolkovan njemačkim i latinskim riječima“ (Serbisch-deutsch-lateinisches Wörterbuch, 2. erw. Aufl. Wien 1852, ohne Grammatik) erschien und bereits 1824 von Jacob Grimm ins Deutsche übersetzt wurde. Grammatik und Wörterbuch bildeten den Grundstein für K.s Sprachreform, „kein anderes Werk hat in der serbischen Kulturgeschichte als Wendepunkt und Fundament eine bedeutendere Rolle gespielt“ (Pavle lvić). K. trat in Grammatik und Wörterbuch für eine Schriftsprache ein, die an seinem ostherzegowinischen Heimatdialekt orientiert war und sich damit in konsequenten Gegensatz zum vorherrschenden Slawenoserbischen - einem künstlichen Sprachgemisch aus kirchenslawischen, russischen und serbischen Elementen - stellte. Sie wurde phonetisch geschrieben, so daß eine Reihe älterer Buchstaben überflüssig wurden; diese Orthographiereform wurde von K. im Laufe der Zeit verfeinert und ergänzt. Gerade den ostherzegowinischen, štoka- visch-jekavischen Volksdialekt zur Grundlage der Schriftsprache zu machen, hatte überzeugende Gründe für sich, war doch dieser zentrale Dialekt besonders weit verbreitet, dazu in der berühmten ragusäischen Literatur des 15. und 16. Jh.s vielfach verwendet und schließlich auch die Sprache des für die gesamte patriarchalische Volkskultur wesentlichen Heldenliedes. Daß K. an einen ,echten' Volksdialekt anknüpfte und Kompromisse mit der alten kirchenslawischen und auch slawenoserbischen Tradition strikt ablehnte und so diese willkürlichen Riegel vor der Volkssprache beiseite tat, ist seine besondere Leistung bei der synchronischen Lösung des Sprachproblems (Schmaus). Es sollte jedoch noch Jahrzehnte dauern und eines zähen und konsequenten Kampfes bedürfen, bis diese Sprachreform verwirklicht war. K.s in Leipzig 1823/24 herausgegebenen 3 Bände Volkslieder (eine wesentlich erweiterte Ausgabe der beiden Bände von 1814/15; spätere Aufl. in Wien in 4 Bänden, 1841/62 (Nachdruck Belgrad 1969), schließlich 9 Bände Belgrad 1891/1902), sein fünfbändiger wissenschaftlicher Almanach „Danica“ (Wien 1826/29, 1834), schließlich seine Übersetzung des Neuen Testaments (Wien 1847) waren wesentliche Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel. Als dann im Jahre 1847 auch der Philologe Djuro Daničić mit seiner Schrift „Rat za srpski jezik i pravopis“ (Kampf für die serbische Sprache und Orthographie) für K. eintrat, Petar II. Petrović Njegoš seinen berühmten „Gorski vijenac“ (Bergkranz) und Branko Radičević seine erste lyrische Gedichtsammlung „Pesme I“ (Gedichte I) in K.s Volkssprache erscheinen ließen und so deren künstlerischen Wert aufzeigten, hatte K.s Sprachreform endgültig den Sieg errungen über die Vertreter des Illyrismus mit Ljudevit Gaj und Vjekoslav Babukić und die serbischen, um ihren Wortführer, den Neusatzer Anwalt und Schriftsteller Jovan Hadžić (Dichtername Miloš Svetić), gescharten Gegner. So kam es am 16. März 1850 zum „Bečki književni dogovor“ (Wiener Vertrag über die Schriftsprache), den außer K. und Daničić u. a. auch die Kroaten Ivan Mažuranić und Dimitrije Demeter, dazu der wissenschaftliche Begründer der Wiener Slawistik, Franz von Miklosich, unterschrieben. Mit diesem Sieg K.s war die gesamte weitere schrift- und kultursprachliche Entwicklung des nun vereinten Serbo-kroatischen für die zweite Hälfte des 19. Jh.s und bis ins 20. Jh. hinein richtungweisend geprägt (amtliche Einführung der Vukschen Orthographie in Serbien 1869). K., der nicht nur als Sprachreformer und Volksliedsammler hervortrat und serbische Sprichwörter (Srpske narodne poslovice, Wien 1849; Nachdruck Belgrad 1969) und Volkserzählungen (Srpske narodne pripovijetke, Wien 1853; Nachdruck Belgrad 1969) sammelte und herausgab, hat auch historische Werke verfaßt, so das Buch „Montenegro und die Montenegriner“ (Stuttgart 1837; serbokroatische Übersetzung im Nachdruck Belgrad 1969) und eine Reihe von Abhandlungen zur serbischen Geschichte seiner Zeit (z. B. „,Pravitelstvujuščii sovět serbskii' za vremena Kara-Djordjijeva“, Wien 1860, veröffentlicht mit anderen, zu Lebzeiten K.s nicht gedruckten Schriften in dem Band „Srpska istorija našega vremena“, Belgrad 1969). Leopold Rankes „Die serbische Revolution“ (Hamburg 1829) beruht im wesentlichen auf K.s Informationen. Die siebenbändige Ausgabe von K.s Korrespondenz (Vukova prepiska, 7 Bde, Belgrad 1907/13) und seine gesammelten grammatischen und polemischen Schriften (Skupljeni gramatički i polemički spisi, 3 Bde, Belgrad 1894) geben darüber hinaus Auskunft über sein vielseitiges, ihn mit führenden Persönlichkeiten seiner Zeit kritisch verbindendes Wirken, das in Auszeichnungen und Würdigungen zahlreicher Akademien und wissenschaftlicher Gesellschaften europäische Anerkennung fand. In der serbischen Kultur- und Geistesgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jh.s ist K. die beherrschende und bedeutendste Persönlichkeit; unermüdliche intellektuelle Energie, leidenschaftlicher Glaube an die Macht des Wissens und der Vernunft, aber auch kämpferisch-polemische Konsequenz in der Verfolgung gesetzter Ziele zeichnen ihn aus. Sein sprachreformerisches, ethno- und historiographisches und auch literarisches Wirken und Werk bestimmten die Entstehung und Entwicklung der modernen serbokroatischen Schriftsprache und ihrer funktionalen Orthographie und schafften lungen und Editionen - der großen Volksdichtung, insbesondere dem Eleldenlied, als künstlerischem und nationalem Kulturgut europäische Anerkennung (Jacob Grimm, Goethe, Talvj). Durch ihn wurde „unser ganzes Volk in das kulturelle Leben eingeführt“ (Aleksandar Belić). Parallel zur politischen Befreiung Serbiens kann K.s Werk als geistige und kulturelle Revolution seines Landes verstanden werden. Die gesammelten Werke K.s erscheinen seit 1965 im Prosveta-Verlag in Belgrad und sind auf 32 Bände geplant.
Literatur
Stojanović, Ljubomir: Život i rad Vuka St. Karadžića. Beograd, Zemun 1924.
Belič, Aleksandar: Vukova borba za narodni i književni jezik. Beograd 1948.
Kovčežić. Prilozi i gradja o Dositeju i Vuku. Bd 1 ff. Beograd 1958 ff.
Schmaus, Alois: Synchronie und Diachronie in Vuk St. Karadžićs Sprachreform. In: Münchner Studien zur Sprachwissenschaft 18 (1965) 93-106.
Braun, Maximilian: Die schöpferische Leistung von Vuk Karadžić. In: Die Welt der Slaven 10 (1965) 113-122.
Ivić, Pavle: O Vukovom rječniku iz 1818. godine. In: Sabrana dela Vuka Karadžića. Bd 2. Beograd 1966, 19-186.
Selimović, Meša: Za i protiv Vuka. Novi Sad 1967.
Dobrašinović, Goleb (Hrsg.): Arhivska gradja o Vuku Karadžiću 1813-1864. Beograd 1970.
Wilson, Duncan: The life and times of Vuk St. Karadžić. Oxford 1970.
Rehder, Peter: Srpski rječnik. In: Kindlers Literatur Lexikon. Bd 6. München 1971, Sp. 1864-1866.
Popović, Miodrag: Vuk St. Karadžić. Beograd 1972(2).
Karadžić, Vuk Stefanović: Kleine serbische Grammatik. Übersetzt und mit einer Vorrede von Jacob Grimm (1824). Neu hrsg. u. eingel. von Miljan Mojašević u. Peter Rehder. München 1974. = Sagners slavistische Sammlung. 1.
|