Lukács, György

GND: 11857518X

Lukács, György (Georg), ungarischer Politiker, Theoretiker des Marxismus, * Budapest 13.04.1885, † ebd. 04.06.1971.

Leben

 Im wissenschaftlichen Werk ebenso wie im politischen Leben von L. spiegelt sich wie bei kaum einem anderen marxistischen Denker die fast tragisch zu nennende Spannung zwischen Möglichkeit und Grenze des Ringens um eine eigenständige Interpretation und Fortbildung des Marxismus angesichts der institutionellen Verfestigung des Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung nach der Revolution von 1917 und noch einmal nach den weltpolitischen Veränderungen nach 1945 und ihrer Bedeutung für Ostmittel- und Südosteuropa und darüber hinaus. Das frühe Schaffen von L. galt bis zum Ersten Weltkrieg literarhistorischen und literaturtheoretischen Themen, wobei vor allem eine Beeinflussung durch die Deutsche Lebensphilosophie, die Phänomenologie, den Neukantianismus und Max Weber erkennbar ist. Die Wendung zum Marxismus erfolgte unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges: L. trat im Dezember 1918 der „Ungarländischen Partei der Kommunisten“ bei und wurde 1919 stellvertretender Volkskommissar, dann Volkskommissar für das Unterrichtswesen in der Räterepublik von Béla Kun und zugleich politischer Kommissar der 5. Roten Division. Der Marxismus bestimmte fortan das Denken von L. nachhaltig: Einmal weitete L. die traditionelle literarhistorische Methodik der Analyse und Wertung in die Richtung einer marxistischen Literaturtheorie aus, die zugleich mehr als bloß Literatur- Soziologie war, und die schließlich über wichtige literarhistorische Monographien zum großangelegten Entwurf einer marxistischen Ästhetik hinführte (Die Theorie des Romans, 1920; Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus, 1945; Der russische Realismus in der Weltliteratur, 1949; Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, 1954; Der historische Roman, 1955; Die Eigenart des Ästhetischen, 1963). Mit diesen Arbeiten hat L. die Literaturwissenschaft und im weiteren Sinne die Kunsttheorie weltweit beeinflußt. Zum anderen zwang die Spannung zwischen Hoffnung und Enttäuschung, die sich im Zusammenhang mit der Oktoberrevolution von 1917, der folgenden sowjetischen Entwicklung sowie mit der ungarischen Räterepublik und ihrem Scheitern herausbildete, zu einer grundsätzlichen Reflexion des zentralen Theorems des Marxismus: der revolutionären Einheit von Theorie und Praxis. Diese grundsätzliche kritische Reflexion des Marxismus fand ihren wichtigsten und nachhaltig wirksam bleibenden Niederschlag in dem 1923 veröffentlichten „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Mit diesem Buch hat der seit 1920 vor allem in Wien lebende L. nicht nur das Problem der Entfremdung sowie die Problematik des Proletariats als Zentralproblem eines zeitgenössischen Marxismus herausgearbeitet, sondern zugleich unter nachdrücklicher Betonung des Hegelschen Erbes im Marxschen Denken Marxismus als eine die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit in dialektischer Totalitätsbetrachtung analysierende Methode zu bestimmen unternommen. Mit der Betonung der dialektischen Totalitätsbetrachtung beeinflußte L. in den zwanziger Jahren wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend die Diskussionen um das Ideologieproblem und den Marxismus als wissenschaftliche Methode. Der darin wirksame Hegelianismus zwang ihn schließlich (1933/34) zur Selbstkritik an seinem Werk „Geschichte und Klassenbewußtsein“. Nicht anders verhielt es sich mit den ebenfalls in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ und schon vorher in „Taktik und Ethik“ angesprochenen Problemen der revolutionären Organisation. Obwohl sich L. im Zusammenhang mit den Überlegungen zum Problem des revolutionären Subjekts der Leninschen Parteitheorie annäherte, hat er sich stets gegenüber deren bürokratischzentralistischer Verwirklichung wie auch gegenüber den parteioffiziellen Einschätzungen der Möglichkeiten der Revolution eine Eigenständigkeit der politisch-theoretischen wie politisch-taktischen Konzeption zu wahren gesucht („Blum“-Thesen für den 2. Kongreß der illegalen ungarischen KP und Konzept der „demokratischen Diktatur“ 1928/1929; These vom Bündnis zwischen Sozialismus und Demokratie gegen den gemeinsamen Feind, den Faschismus, 1946; Auseinandersetzung mit dem Stalinismus 1956-1962). Gerade diese Eigenständigkeit in der Beurteilung der politischen Möglichkeiten des Sozialismus und seiner Organisation brachten ihn jedoch immer wieder in Konflikt mit der Partei und zwangen ihn mehrfach zur Selbstkritik. Von 1933 an lebte L. in der Sowjetunion, wo er Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde. 1944 kehrte er nach Ungarn zurück und wurde Mitglied des Parlaments, des Präsidiums der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, des Landesrates der Patriotischen Volksfront sowie Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie an der Universität Budapest. Während des ungarischen Volksaufstandes im Herbst 1956 schloß er sich Imre Nagy an und wurde Staatsminister in dessen Kabinett. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes wurde L. mit diesem nach Rumänien deportiert, doch durfte er bereits im folgenden Jahr nach Ungarn zurückkehren. In der ihm noch verbliebenen Zeit lebte L., im wesentlichen vom direkten politischen Leben zurückgezogen, der Vollendung seines wissenschaftlichen Werkes, wobei Vorworte zu Neuauflagen seiner Schriften sowie Interviews einen Einblick in sein selbstkritisches Bemühen bezeugen, an der Deutung des eigenen Lebensablaufs die Frage nach dem zu erschließen, was Marxismus heute sein könne und sein müsse.
 L.s Werke werden seit 1962 in Neuwied und Berlin publiziert, die Auswahlausgaben „Schriften zur Literatursoziologie“ und „Schriften zur Ideologie und Politik“ erschienen 1961 (1963²) bzw. 1967.

Literatur

Parkinson, G. H. R. (Hrsg.): George Lukács. The man, his works and his ideas. London 1970.
Lichtheim, George: Georg Lukács. München 1971.
Raddatz, Fritz J.: Georg Lukács. Reinbek b. Hamburg 1972.
Hanák, Tibor: Lukács war anders. Meisenheim/Glan 1973.

Verfasser

Hans-Joachim Lieber (GND: 115800670)

Empfohlene Zitierweise: Hans-Joachim Lieber, Lukács, György, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 58-60 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1270, abgerufen am: 22.11.2024