Marković, Svetozar

GND: 118781979

 Marković, Svetozar, serbischer Politiker und Publizist, * Zaječar 09.09.1846, † Triest 26.02.1875.

Leben

M., zweiter Sohn eines serbischen Beamten und der Tochter eines Distriktpräfekten, entstammte einer wohlhabenden, in der zweiten Hälfte des 19. Jh. von Kosovo ins Paschalik Belgrad übersiedelten Familie. Er besuchte zunächst die Elementarschulen in Rekovac und Jagodina, 1856-1860 die Mittelschule (polugimnazija) von Kragujevac, 1860-1863 das Belgrader Gymnasium. 1863 immatrikulierte er sich an der Technischen Fakultät der Velika Škola in Belgrad und erhielt 1866 ein Vierjahresstipendium des Asiatischen Departementes des russischen Außenministeriums zum Studium am Verkehrsingenieurinstitut (Institut inženerov putej soobščenija Imperatora Aleksandra I.) in St. Petersburg. 1866 trug er zur Einberufung eines Jugendkongresses in Neusatz bei, aus dem die Ujedinjena Omladina hervorging. In Rußland lernte er die Gedanken Nikolaj Gavrilovič Černyševskijs, Ivan Ivanovič Bočkarevs und der revolutionären Studentenzirkel kennen. Unter ihrem Einfluß verschärfte sich ab 1867 seine Kritik an dem Fürsten, der zentralistischen Verwaltung und ihren Beamten, deren Zahl und Bedeutung M. freilich weit überschätzte. Publizistisch setzte er sich für die Befreiung des gesamten serbischen Siedlungsraumes, vor allem Bosniens und der Herzegowina, durch eine revolutionäre Volkserhebung ein, die ihm, dem Sproß einer der Dynastie Karadjordjević anhängenden Familie, als Alternative zur Expansionspolitik der Obrenovići vorschwebte. Die in Svetozar Miletić’ Zeitung „Zastava“ (Die Fahne) entwickelte Gegenkonzeption einer südslawischen demokratischen Föderation mit den Bulgaren und Kroaten führte 1869 zum definitiven Bruch mit der Liberalen Partei, die einen Ausgleich mit dem Fürsten anstrebte. An diesem, unter dem Einfluß sozialistischer und anarchistischer Doktrinen weiterentwickelten Programm, die Gemeindeselbstverwaltung als historisches Erbe dem Staat und einer neuen, nationalistische Rivalitäten ausschließenden Friedensordnung in Südosteuropa zugrundezulegen, hielt M. immer fest (zusammenfassend in seinem Buch „Srbija na istoku“ [Serbien im Osten], Novi Sad 1872). Bleibendes Ergebnis seiner Beschäftigung mit den Gedanken der russischen revolutionären Bewegung war außerdem seine Annäherung an einen Sozialismus populistischer Prägung. Allerdings schwankte M. zwischen der Hoffnung auf eine friedliche Überführung
 Serbiens ohne Proletariat und ohne Massen landloser Bauern in die neue dezentralisierte Gesellschaft, und der dogmatischen Übernahme sozialistischer Theorien, die 1870 in dem grotesken Versuch gipfelte, die Bauern als Proletarier hinzustellen. 1869 setzte M. sein Studium mit einem Stipendium der serbischen Regierung an der Technischen Hochschule Zürich fort. Der Ausgleich zwischen Fürst Milan Obrenović und der Liberalen Partei (1869) veranlaßte ihn, mit seinem Kommilitonen Nikola Pašić sowie mit Pera Velimirović, Dimitrije Rakić und Djura Ljočić die Radikale Partei (Radikalna stranka) zu gründen. Auf dem Lausanner Kongreß der Liga für Frieden und Freiheit schloß er sich der sozialistischen Minorität an, arbeitete 1870 mit der russischen Sektion der Ersten Internationale zusammen und verlor wegen seiner politischen Tätigkeit sein serbisches Stipendium. Wie bei vielen südosteuropäischen Intellektuellen seiner Generation gehörten außer den sozialistischen Schriften der Materialismusstreit, die Lehre Darwins und Ernst Haeckels, die Philosophie Feuerbachs und John William Drapers populäre „History of the Intellectual Development of Europe“ (1862) zu seinen großen Bildungserlebnissen, doch kam er über eine anspruchslose Kompilation heterogener Lesefrüchte nicht hinaus. Die wachsende Zahl seiner Anhänger machte sich schon auf dem Omladina-Kongreß 1870 bemerkbar, auf dem der Streit zwischen den Verteidigern der großserbischen Expansionspolitik und den radikaldemokratischen Föderalisten um M. zur Annahme einer Kompromißformel (Befreiung der Serben durch Vergrößerung des Fürstentums, aber auch Dezentralisierung) und zur Wahl zweier seiner Anhänger in leitende Positionen (Vasa Pelagić für Bosnien, Djura Ljočić für Belgrad) führte. Inspiriert von der Diskussion über die Genossenschaften im sozialistischen und bes. im russischen revolutionären Schrifttum sowie von seinen Erfahrungen in der Schweiz, widmete sich M. nach seiner Rückkehr nach Serbien (1870) der Gründung demokratisch organisierter Erzeuger- und Konsumgenossenschaften, die er als Grundlage der neuen Gesellschaft betrachtete, ohne aber die große Masse der Bauern in seinen Plänen zu berücksichtigen. Außer der Tischlergenossenschaft und einigen Zusammenschlüssen in der Provinz scheiterten alle diese Gründungen nicht zuletzt am Widerstand der Behörden. Vom 1. Juni 1871 an erschien in Belgrad der von ihm redigierte „Radenik“ (ab 1872: Radnik [Der Arbeiter]) als erste sozialistische Zeitung Südosteuropas, die vor allem theoretischen Erörterungen diente und bald ein breites Leserpublikum fand (Auflage: 1500 Exemplare), aber schon 1872 von den Behörden geschlossen wurde. M. arbeitete jetzt im Neusatzer Exil für einen Aufstand in Bosnien und der Herzegowina, nachdem er sich schon Ende 1871 an der Gründung der „Gesellschaft für die serbische Befreiung und Vereinigung“ (Družina za oslobodjenje i ujedinjenje srpsko) beteiligt und Kontakte zu bulgarischen Revolutionären hergestellt hatte. Auf dem von Michail Aleksandrovič Bakunin 1872 nach Zürich einberufenen serbischen Sozialistenkongreß blieben die Anhänger M.s, die sich trotz enger Berührung ihrer Dezentralisierungsideen mit Bakunins Positionen Marx annäherten, in der Minderheit. Im März 1873 aus Neusatz ausgewiesen, kehrte M. nach Serbien zurück und ging wegen seines alten Scrophuloseleidens zur Kur nach Arandjelovac. Das ihn seit langem beschäftigende Problem, wie sich Marx’ Lehre, die er nur unvollständig kannte, mit seiner ganz anderen Konzeption vereinbaren lasse, löste er nun, indem er die Anwendbarkeit der Marxschen Geschichtsgesetze auf Serbien bestritt. Durch die Bildung von Produzenten- und Kleineigentümer-Assoziationen könne hier der Kapitalismus (und damit auch die sozialistische Revolution) vermieden und der direkte, friedliche Übergang zur Zukunftsgesellschaft gefunden werden. Am 8. November 1873 erschien in Kragujevac die erste Nummer seiner neuen Zeitung „Javnost“ (Die Öffentlichkeit; 1874: 1.100 Abonnenten), die im Unterschied zum Radenik aktuelle Fragen erörterte und deswegen den Behörden noch gefährlicher erschien. Am 8. Januar 1874 wurde M. verhaftet, nach einem Aufsehen erregenden Prozeß am 21. Februar 1874 wegen Pressevergehens zu 18 Monaten, in zweiter Instanz zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. In der Haftanstalt Požarevac vollendete er seine „Načela narodne ekonomije“ (Prinzipien der Volkswirtschaft, Belgrad 1874) und entwickelte sein Kommunemodell weiter, ohne freilich darzulegen, wie sich seine Forderung nach voller legislativer und Kontrollkompetenz der Nationalversammlung mit dem Obersten Sovjet an der Spitze seiner späten Konstruktion eines Rätesysems vereinbaren läßt. Am 16. November 1874 wurde er mit einer Darm-Tbc entlassen. Nach der Gründung der neuen Zeitschrift „Oslobodjenje“ (Befreiung; Kragujevac Januar 1875) reiste er nach Wien und starb auf dem Wege von dort nach Dalmatien in Triest. Seine Anhänger zogen 1875 in die Skupština ein und beteiligten sich an dem von M. ersehnten und vorbereiteten Aufstand in Bosnien und der Herzegowina. 1881 zerfiel die Radikale Partei, als eine Gruppe um Nikola Pašić ausschied und die später dominierende Radikale Volkspartei (Narodna Radikalna Stranka) bildete; der sozialistischen Rumpfpartei waren nurmehr Mißerfolge beschieden.

Literatur

Marković, Svetozar: Celokupna dela Svetozara Markovića. 8 Bde. Beograd 1892/1912.
Ders.: Sabrani spisi. 4 Bde. Beograd 1960/65.
Popović, Jovan: Svetozareva buktinja nad našom književnošću. In: Književnosti (1946) 9, 9-25.
Karasev, Viktor Georgevič: Social’no-političeskie vzgljady Svetozara Markovića. Moskva 1951 = Kratkie soobščenija Instituta slavjanovedenija. 6.
Masleša, Veselin: Svetozar Marković. In: Ders.: Dela. Bd 3. Sarajevo 1956, 12-100.
Prodanović, Dimitrije: Shvatanje Svetozara Markovića o državi. Beograd 1961.
McClellan, Woodford D.: Svetozar Marković and the Origins of Balkan Socialism. Princeton, N. J. 1964.
Skerlić, Jovan: Svetozar Marković. Njegov život, rad i ideje. Beograd 1966.
Nedeljković, Dušan: Svetozar Marković i razvoju socijalističke misli na delu. Beograd 1975.
Milentijević, Radmila: A History of the Serbian Social Democratic Party (1903-1909): Origins and Development. Ann Arbor, Mich. 1973.
Blagojević, Obren: Ekonomska misao Svetozara Markovića. Beograd 1975.

Verfasser

Gunnar Hering (GND: 1078119694)

Empfohlene Zitierweise: Gunnar Hering, Marković, Svetozar, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 105-107 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1298, abgerufen am: 23.11.2024