Paparrigopulos, Konstantinos, griechischer Historiker und Publizist, * Istanbul 1815, † Athen 14.04.1891.
Leben
P.’ Vater, Dimitrios P., ein aus der Peloponnes stammender Börsenmakler in Istanbul, wurde nach Ausbruch der griechischen Revolution vom März/April 1821 zusammen mit anderen Mitgliedern seiner Familie vom Sultan hingerichtet. P. flüchtete mit seiner Mutter nach Odessa, wo er als Stipendiat des Zaren das exklusive „Lycée Richelieu“ besuchte. 1830 kam P. mit seiner Familie in die provisorische Hauptstadt des befreiten Griechenlands, Nauplia, dann, 1834, in die neue Hauptstadt Athen, wo er im selben Jahr seine Tätigkeit als Beamter im Justizministerium aufnahm. Mehr als seine Dienstpflichten interessierten ihn jedoch seine privaten Geschichtsstudien. Schon 1843 erregte er Aufsehen mit der Veröffentlichung seines Erstlingswerkes „Peri tis epikiseos slavikon tinon filon is tin Peloponnison“ (Über einige slawische Niederlassungen auf der Peloponnes), mit dem er der Theorie Fallmerayers über die Entgräzisierung Griechenlands entgegentrat. Im Mai 1845 wurde er als Auslandsgrieche vom Dienst suspendiert, ein Jahr später jedoch als Geschichtslehrer am Athener Gymnasium eingestellt. 1847 brachte er eine kleine Kolettis-freundliche Zeitung heraus, die „Nationalzeitung“ (Ethniki), die nur drei Monate lang erscheinen konnte. In derselben Zeit befaßte er sich hauptsächlich mit der Abfassung von Schulbüchern (Jeniki istoria [Allgemeine Geschichte], 2 Bde, 1849/52). 1850 gründete er zusammen mit Alexandros-Rizos Rangavis und Nikolaos Dragumis die „Pandora“, die erfolgreichste griechische Zeitschrift im 19. Jh. (sie erschien bis 1863). 1851 wurde P., obwohl er kein abgeschlossenes Studium nachweisen konnte, als außerordentlicher Professor für Geschichte an die Athener Universität berufen. 1853 erschien seine „Istoria tu elliniku ethnus“ (Geschichte der griechischen Nation), ein schlichtes Schulbuch, das die Einheit der griechischen Geschichte durch die Jahrtausende zum erstenmal als solche behandelte und somit das spätere Monumentalwerk seines Verfassers vorankündigte. Im selben Jahr brachte er mit anderen Gelehrten die politische Zeitschrift „La Spectateur de l’Orient“ heraus, die sich während des Krimkrieges die Propagierung der griechischen „Nationalinteressen“ zum Ziel gesetzt hatte. 1856 wurde P. zum ordentlichen Professor befördert. 1858 brachte er die Zeitung „O Ellin“ (Der Grieche) heraus (sie erschien bis 1860), in der er eine Otto-freundliche Politik vertrat. 1860 erschien der erste Band seines Lebenswerkes, der fünfbändigen „Istoria tu elliniku ethnus“ (Geschichte der griechischen Nation), das schon vor seinem Abschluß im Jahr 1874 seinen Autor zum offiziellen Tribun der griechischen „nationalen Sache“ und zum offiziellen Vertreter der griechischen „Nationalhistoriographie“ sanktionierte. In derselben Zeit widmete sich P. auch der praktisch-propagandistischen Tätigkeit: 1876 organisierte er während des russisch-türkischen Krieges Manifestationen für die Erkämpfung der „nationalen Sache“, und als führendes Mitglied der Organisation „Ethniki Amina“ (Nationale Abwehr) arbeitete er für die „Befreiung“ der noch unter türkischer Herrschaft befindlichen griechischen Gebiete. Nach dem Berliner Kongreß (1878) organisierte er in Athen einen Kongreß der griechischen „Nationalvereine“ (März - April 1879) zur Koordinierung des „nationalen Kampfes“ und reiste ins Ausland (Paris, Berlin, Istanbul, Alexandrien) zu dessen propagandistischer Vertretung. Sein Werk hatte inzwischen internationale Anerkennung gefunden: 1875 wurde er zum Professor honoris causa der Universität Odessa ernannt und 1881 zum Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens verbrachte er vor allem mit der Sorge für die Bekanntmachung seines Werkes im Ausland (1878 erschien die französische Übersetzung des Nachworts zu seiner „Geschichte“ mit dem Titel „Histoire de la civilisation hellénique“) oder mit dem Sammeln und der Neuveröffentlichung seiner kleineren historischen Studien und Reden (Istorike Pragmatie [Historische Studien], Athen 1889). Die wissenschaftliche Bedeutung seines Werkes ist, obwohl nicht unumstritten, für die griechische Geschichtsschreibung des 19. Jh.s diejenige eines Katalysators: Nach einer langen Reihe von Memoiren aus dem Unabhängigkeitskampf, die das historische Geschehen - wohlgemerkt nur das noch aktuelle - in der Form von persönlichen Erinnerungen, also rein empirisch, Wiedergaben, leitete er, obwohl ein Autodidakt, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der eigenen Geschichte auf der Grundlage einer „objektiven“ Quellenforschung ein. Sein Einfluß auf die offizielle griechische Geschichtsschreibung der nachfolgenden Jahrzehnte war groß - vor allem
im negativen Sinne: Seine Nachfolger trennten die Hauptelemente seiner Geschichtsschreibung, die bei ihm vereint waren, so, daß die einen sich einer trockenen und geistlosen „Quellenforschung“ widmeten (Konstantinos Satbas, Spiridon Lampros u. a.), während andere seinen schwülstigen Stil nachahmten, um, voll nationalen Geistes, einer sonntagsredenähnlichen patriotisch-rhetorischen „Geschichtsschreibung“ zu verfallen. Doch viel wichtiger ist die politische und ideologische geschichtliche Bedeutung seines Werkes: Indem sich P. die Prinzipien einer praktisch orientierten „nationalen“ Geschichtsschreibung seiner Vorbilder, Thomas Macaulay, Johann Gustav Droysen und François Guizot, zu eigen machte, wurde er zum ersehnten Wortführer der „nationalen“ Aspirationen seines Zeitalters: Seine Auffassung, daß „die Pflicht [des Historikers] eine doppelte ist, - wissenschaftlich und zugleich national“ - steht nur scheinbar mit seinem Anspruch auf „objektive“ Wissenschaftlichkeit in Widerspruch; sie spiegelte objektiv die Tendenzen ihrer Zeit wider. Und es waren eben diese Tendenzen, die nunmehr von ihm theoretisch ausgerüstet, zu den nationalen Katastrophen von 1897 und 1922 führten. Die „nationale“ Geschichtsschreibung des Paparrigopulos hatte ihren verhängnisvollen Beitrag dazu geleistet.
Literatur
Fotiadis, Evangelos: Neoelliniki istoriografia. Bd 2: K. Paparrigopulos. Athen 1954. = Vasiki Vivliothiki. 38.
Dimaras, Konstantinos Th.: I protes ekdosis tis „Istorias“ tu K. Paparrigopulu. In: O Eranistis 5 (1967) 145-155.
Veloudis, Georg: Jakob Philipp Fallmerayer und die Entstehung des neugriechischen Historismus. In: Südost-Forsch. 29 (1970) 43-90.
Paparrigopulos, Konstantinos: Istoria tu elliniku ethnus (i proti morfi). Hrsg. Konstantinos Th. Dimaras. Athen 1970 (mit Bio-Bibliographie).
Ders.: Prolegomena. Hrsg. Konstantinos Th. Dimaras. Athen 1970 (mit Bio-Bibliographie).
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