Thallóczy, Lajos von

GND: 118621556

Thallóczy, Lajos (Ludwig) von, ungarischer Politiker und Historiker, Begründer der ungarischen Balkanforschung, * Ofen 8.12.1854, † Herczeghalom (Komitat Pest-Pilis-Solt-Kiskun) 1.12.1916. Seine erste historische Arbeit veröffentlichte er unter seinem deutschen Geburtsnamen Strommer; nach dem Universitätsstudium in Budapest nahm er den Namen der kroatisch-ungarischen Adelsfamilie Talovac / Thallóczy an.

Leben

Th. war zunächst Konzipist im ungarischen Staatsarchiv, dann ab 1877 Dozent an der Budapester Universität. Vom k.u.k. Reichsfinanzminister Benjámin Kállay wurde er 1884 nach Wien berufen. 1896 wurde er Hofrat und Direktor des gemeinsamen Finanzarchivs, dann Referent für die bosnisch-herzegowinischen Kultus- und Unterrichtsangelegenheiten, Mitglied der ungarischen Akademie und Präsident der Hungarischen Historischen Gesellschaft. Im Ersten Weltkrieg war Th. „Ziviladlatus“ beim Militärgubernium im besetzten Serbien. Auf der Rückfahrt von der Bestattung Kaiser Franz Josephs kam er bei einem Zugzusammenstoß in Herczeghalom ums Leben.
Th. hatte sich durch das Studium der slawischen Sprachen und durch ausgedehnte Reisen in Rußland und im Orient schon in jungen Jahren umfassende Geschichtskenntnisse erworben. Nach seiner ersten Reise nach Rußland (1882) veröffentlichte er das Buch „Oroszország és hazánk“ (Rußland und unser Vaterland, Budapest 1884). Dann führte ihn seine Tätigkeit im bosnischen Ministerium zur Geschichte der südlichen Nachbarn Ungarns (Serbien, Albanien und besonders Bosnien). Sein großer Plan, die Geschichte der ungarischen Großmacht des Spätmittelalters und der ungarisch-balkanischen Beziehungen sowie die Landesgeschichte Bosniens zu schreiben, blieb infolge des frühen Todes unverwirklicht. Seine Veröffentlichungen waren als Vorbereitung dieses Hauptwerkes gedacht. Th. war der erste Ungar, der in Verbindung mit Vatroslav Jagic und Antal Hodinka slawische Quellen zur Geschichte der ungarischen Landnahme systematisch zusammenstellte: „A magyar honfoglalás kútfői“ (Budapest 1898). In ungarischen und bosnischen Zeitschriften veröffentlichte er eine Menge von Abhandlungen über Einzelfragen der Anthropogeographie, Heraldik, über gentile Verbände und Familienkunde Bosniens. Mit Jagic und Franz Wickhoff zusammen gab er das „Missale glagoliticum Hervoiae ducis Spalatensis“ (Wien 1891) heraus. Seine zerstreuten Studien sammelte er in dem Buche „Bosnyák és szerb életi és nemzedékrajzi tanulmányok“ (Budapest 1909), das auch deutsch erschien unter dem Titel „Studien zur Geschichte Bosniens und Serbiens im Mittelalter“ (München, Leipzig 1914). Es enthält Einzeluntersuchungen (besonders wichtig: über den Ursprung des bosnischen Banates) sowie im Anhang eine Menge bisher unbekannter Urkunden (1301-1528) aus den Archiven von Körmend (Familienarchiv Batthyány), Barcelona und Ragusa. In anderen Abhandlungen befaßte sich Th. mit den ungarischen Bezügen der Chronik des Presbyter Diocleas (Pop Dukljanin)) (in: Arch. slav. Philol. 20, 1898), mit den ungarisch-bulgarischen Beziehungen zur Zeit Ludwigs I. (in: Századok 1898, 1900). Die ungarisch-moldauischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s behandelte er in seiner Ausgabe des Briefwechsels zwischen dem moldauischen  Woiwoden Despot Vodä (Ioan Iacob Heraclid) und dem ungarischen Generalkapitän von Kaschau Ferenc Zay (Levelek Heraclides Jakob moldovai vajda és Zay Ferencz kassai főkapitány összeköttetésének történetéhez, Budapest 1890).
Das wissenschaftliche Hauptverdienst Th.s liegt in den großangelegten Urkundensammlungen über die Beziehungen Ungarns zu seinen südlichen Nachbarn (Slawonier zwischen Kupa und Drau, küstenländische Kroaten, binnenländische Serben, Bosnier), die als quellenmäßige Grundlage für eine großgeplante Gesamtdarstellung der Beziehungen der spätmittelalterlichen Großmacht Ungarn zu seinen südlichen Nachbarstaaten gedacht war.
In Verbindung mit Joseph Gelcich, dem damaligen Vorstand des Archivs von Ragusa (Dubrovnik) gab er das „Diplomatarium relationum reipublicae Ragusanae cum regno Hungáriáé“ (Budapest 1887) heraus, mit dem Budapester Archivar Samuel Barabás den „Codex diplomaticus comitum de Blagay“ (A Blagay család oklevéltára 1200-1578, Budapest 1897) und den „Codex diplomaticus de Frangepanibus“ (A Frangepán család oklevéltára, Bd 1 (1133-1453), Bd 2 (1454-1527), Budapest 1910/13), mit dem damaligen Kustos des ungarischen Nationalmuseums und späteren Universitätsprofessor Antal Áldássy den „Codex diplomaticus partium regno Hungáriáé adnexarum“ über die ungarisch-serbischen Beziehungen (A Magyarország és Szerbia közti összeköttetések oklevéltára 1198-1526, Budapest 1907), mit dem Universitätsprofessor Antal Hodinka die Akten der kroatischen Militärgrenze (eigentlich nur die Vorakten) (A horvát véghelyek oklevéltára 1490-1527, Budapest 1903), mit dem Budapester Archivar Sándor Horváth den „Codex diplomaticus partium regno Hangariae adnexarum, Comitatuum Dubica, Orbász et Szana“ (Alsó-Szlavóniai okmánytár 1244-1710, Budapest 1912) und den „Codex diplomaticus partium Hungáriáé adnexarum. Banatus, castrum et oppidum Jajcza“ (Jajcza története, Oklevelek 1450-1527, Budapest 1915).
Die Einleitung zu dem Urkundenbuch der Grafen von Blagay, die eine Geschichte dieser Grafenfamilie bietet (auch deutsch erschienen in der heraldischen Zeitschrift „Adler“ 8, 1896), enthält eine Geschichte der ungarisch-kroatischen Beziehungen im Mittelalter, wie auch die Geschichte der Stadt Jajce als Einleitung zum gleichnamigen Urkundenbuch die Geschichte des mittelalterlichen Bosniens bis 1527 darstellt (dieses Werk erschien auch in kroatischer Übersetzung von Milan Sufflay: Povijest Jajca 1450-1527, Zagreb 1916).
Eine Nachlese archivalischer Forschungserträge, die in den erwähnten Editionen nicht verwertet werden konnten, sind die „Frammenti relativi alla storia dei paesi situati all’Adria“, in: Archeografo Triestino 34 (1911). Sie enthalten Akten aus dem Archiv von Mailand (über den türkischen Einfall nach Friaul 1437) und Barcelona (betr. Ragusa 1443-1456).
Am Rande dieser großen Quelleneditionen liegt die verdienstliche Herausgabe eines Werkes aus dem Nachlaß seines Gönners und Freundes Benjámin Kállay: „A szerb felkelés története“ (Budapest 1909), das dann auch deutsch erschien: „Geschichte des serbischen Aufstandes“ (Wien 1910).
Das mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erwachende Interesse der Wiener Außenpolitik für Albanien, das sich auch in der Entsendung von Wissenschaftlern nach dem besetzten Nordalbanien bekundete, veranlaßte den unermüdlichen Wissenschaftsorganisator Th. zu zwei Sammelwerken über die albanische Geschichte: 1) Gemeinsam mit Jireček und Sufflay gab er ein großangelegtes Regestenwerk zur albanischen Geschichte heraus: „Acta et diplomata res Albaniae mediae aetatis illustrantia“. Bd 1 (344-1344), Bd 2 (1344-1406), Wien 1913/18 (wurde nicht weitergeführt). 2) Er veröffentlichte in dem zweibändigen Sammelwerk „Illyrisch-albanische Forschungen“ (München, Leipzig 1916) in deutscher Sprache seine zumeist ungarisch abgefaßten Untersuchungen zur Geschichte Albaniens und der Nachbargebiete. Dort veröffentlichte er auch das von der venezianischen Regierung in den Jahren 1551-1553 kodifizierte kroatische Gewohnheitsrecht.
In seiner Auffassung der ungarischen und balkanischen Geschichte bewegte sich Th. im Banne der damaligen nationalungarischen Historiographie, die schon seit dem Ende des 18. Jh.s bemüht war, Ungarns politische Führungsansprüche auf dem Balkan aus der Geschichte zu begründen. In diesem Sinne war Th. Schüler des ungarischen Geschichtsforschers Gyula Pauler und des ungarischen Geschichtsforschers und Politikers Benjámin Kállay, er griff aber darüber hinaus noch weiter zurück auf die fast vergessenen Werke der älteren ungarländischen Historiker György Pray ,  István Katona und Johann Christian von Engel. Den Briefwechsel des letzteren veröffentlichte er zum 100. Todestag: „Johann Christian von Engel und seine Korrespondenz 1770-1814. Zur hundertsten Wiederkehr seines Todestages“ (München, Leipzig 1915).
Es konnte und kann nicht unbeachtet bleiben, daß der unermüdliche Geschichtsforscher Th. auch aus dem politischen Dienste, in dem er stand, entscheidende Antriebe erhielt. Er lebte in der traditionalistischen Vorstellungswelt eines großungarischen „Reichspatriotismus“ und wußte sich zugleich den Zielen der Wiener Außenpolitik verpflichtet. So blieb es nicht aus, daß seine historische Forschungstätigkeit ihm von serbischer und dann von jugoslawischer Seite die Charakteristik als „madjarischer Chauvinist“ eintrug. Aber als bleibende und unbestreitbare Leistungen des mit einer bewundernswerten Arbeitskraft ausgestatteten Forschers müssen anerkannt werden: gewaltige Stoffkenntnis, kritische Methode und Objektivität in der Darbietung der Fakten. Seine großen Quelleneditionen für die spätmittelalterliche Geschichte der nordbalkanischen Länder werden für immer grundlegend bleiben. Sein in riesigen Dimensionen geplantes Lebenswerk hat keine Vollendung, seine Forschungsrichtung keinen vollgültigen Nachfolger gefunden.

Literatur

Truhelka, Ćiro: Dr. Ljudevit pl. Thallóczy. † 1. prosinca 1916. In: Glasn. zemaljsk. Muz. 29 (1917) 297-299.
Šufflay, Milan: Ludwig v. Thallóczy (1854-1916). In: Arch. slav. Philol. 37 (1920) 547-552.
Nikolajević, Božidar S.: Listići iz teške prošlosti. Stojan Novaković i madjarski istoričar Taloci. In: Pravda 30 (1934).
Hauptmann, Ferdinand: Ein Reisebericht Dr. Ludwig Thallóczy’s aus Bosnien. In: Mitt. österr. Staatsarch. 13 (1960) 404-450.
Tömöry, Márta: Bosznia-Hercegovina annektálásának történetéből. Részletek Thallóczy Lajos naplóiból. In: Századok 100 (1966) 878-923.

Verfasser

Georg Stadtmüller (GND: 118616595)

Empfohlene Zitierweise: Georg Stadtmüller, Thallóczy, Lajos von, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 294-296 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1762, abgerufen am: 15.01.2025