Vogelsang, Karl (ab 1860) Freiherr von, österreichischer Journalist und Sozialtheoretiker, * Liegnitz 3.09.1818, † Wien 8.11.1890.
Leben
Dem grundbesitzenden Adel Mecklenburgs entstammend, gehörte V. nach Vollendung seiner Studien der Rechts- und Staatswissenschaften eine Zeitlang dem preußischen Staatsdienst an, schied aus diesem aber 1848 aus, um sich der Leitung seines Familiengutes zu widmen. V.s innere Entwicklung prägte die Gesellschaftsauffassung der Romantik und sein Übertritt in die katholische Kirche (1850), in die ihn der Berliner Propst und spätere Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler sowie der „Eoskreis“ um Joseph Görres in München einführten. In Köln gab er sodann zusammen mit dem Konvertiten Franz von Floren court die antiliberale „Politische Wochenschrift“ heraus. Durch den Fürsten Johann von Liechtenstein kam V. 1864 endgültig nach Österreich und ließ sich zunächst nahe von Wien, 1872-1875 in Preßburg nieder. Als Mitarbeiter an der Preßburger Wochenzeitung „Katholik“ (ab Januar 1874 unter dem Titel „Das Recht“), die der Führer des klerikalen Flügels der ungarischen Konservativen, Graf György Apponyi, herausgab, entfaltete V. in seinen Artikeln erstmals sein sozialpolitisches Programm. Seine Stellungnahmen zu anderen aktuellen Fragen, wie z.B. zur ungarischen Nationalitätenpolitik, brachte ihn bald in Gegensatz zu Apponyi, da V. in Ablehnung des Dualismus von 1867 als überzeugter Verfechter einer föderalistischen Staatsordnung auftrat, in der für die herrschende Rolle einer „ungarischen Minderheit“ kein Platz war. V.s Gedanken einer von christlichen Ideen genährten Gesellschaftsreform fanden im ungarischen Katholizismus, den mehr kirchenpolitische Probleme interessierten, nur bei wenigen (so beim Grafen Möric Eszterhäzy und bei der Gruppe um Sandor Giesswein) Anklang, um so mehr jedoch bei den österreichischen Jesuiten unter den Patres Heinrich Abel und Emil Bülow, durch deren Vermittlung V. 1875 als Redakteur die Leitung der Wiener Zeitung „Vaterland“ übernahm. Dieses 1860 gegründete Blatt, das vom ehemaligen Unterrichtsminister Grafen Leo Thun herausgegeben wurde, galt als eines der repräsentativsten Organe der katholisch-konservativen Richtung. Diese weitete V. ins Universale hin aus, indem er den Staat nach der Definition Adam von Müllers als „die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihrer Verbindung zu einem lebendigen Ganzen“ zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen machte, mit denen er in Form von Leitartikeln und mehreren Schriften („Die Grundbelastung und Entlastung“, 1879; „Die Notwendigkeit einer neuen Grundentlastung“, 1880; „Gesammelte Aufsätze über sozialpolitische und verwandte Themata“, 1886), ab 1879 auch in der von ihm gegründeten „Monatsschrift für christliche Sozialreform“ eine christliche Sozialethik aufbaute, die unter Verdammung des Wirtschaftsliberalismus wie des Kapitalismus eine gerechte und humane Lösung der „sozialen Frage“ und mit ihr in Zusammenhang den Umbau von Staat und Gesellschaft nach christlich-historischen Gesichtspunkten forderte. V.s Leitideen folgend ist - auf der Grundlage des christlichen Sittengesetzes in seiner für ihn gültigen Formulierung durch die mittelalterliche Scholastik und unter Ablehnung des Individualismus und des kapitalistischen Privateigentumbegriffes - die Gesellschaft in Form von korporativen Organisationen und in deren Zusammenschluß zu Ständen unter Aneignung eines „national gemeinsamen, ideell geteilten Eigentums“ aufzubauen und zu einem Staatswesen zu vereinigen, in dem Politik, Wirtschaft und Kultur zu einer organischen Einheit verschmelzen. V.s reformerischer Ideenreichtum hat die österreichische Sozialpolitik vor und nach 1900 maßgeblich mitbeeinflußt; die erste von ihm und Ernst Schneider verfaßte, großangelegte sozialwissenschaftliche Untersuchung über „Die materielle Lage des Arbeiterstandes in Österreich“ (Wien 1884) hat die fortschrittliche Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre in die Wege geleitet. Die praktische Konsequenz seiner Lehre, die auf eine Förderung der Kleinbetriebe und des Mittelstandes hinauslief, hat die geistig von V. fundierte „christlichsoziale Bewegung“ unter der Führung seines Schülers und Verehrers Karl Lueger zu einer der wichtigsten und bedeutendsten Kräfte in der österreichischen Politik um die Jahrhundertwende gemacht. Uber den Kreis seiner Wahlheimat hinaus hat V. wesentlich zur Klärung der christlichen Soziallehre des 19. und 20. Jh.s beigetragen. Auf das Werk V.s, Kettelers, Albert de Muns und anderen baut die in vieler Hinsicht bahnbrechende Enzyklika „Rerum novarum“ Leos XIII. (1891) auf, die eine gewandelte Einstellung der Kirche zur modernen Industriewelt proklamierte und darüber hinaus in zahlreichen Staaten zu katholischen Parteigründungen auf der Grundlage der christlichen Soziallehre inspirierte. Hier sind besonders folgende Parteigründungen anzuführen, die im näheren Bannkreis der Ideen V.s sich vollzogen: in Ungarn 1894 die Katholische Volkspartei (Katolikus Néppárt), 1904 die Landespartei der Christlichsozialen (Országos Keresztény-Szocialista Párt), 1918 vereinigten sich beide unter dem Namen Christlichsoziale Volkspartei (Keresztény Szociális Néppárt), in Kroatien 1910 die Christlich-soziale Volkspartei (Krščansko-Socijalna Stranka Prava).
Literatur
Klopp, Wiard: Die sozialen Lehren des Freiherrn Karl von Vogelsang. St. Pölten 1894; Wien, Leipzig 1938(2).
Ders.: Leben und Wirken des Sozialpolitikers Karl Freiherrn von Vogelsang. Wien 1930.
Knoll, August Maria: Der soziale Gedanke im modernen Katholizismus. Wien, Leipzig 1932.
Tóth, László: Vogelsang és a magyar konzervativ politika 1867 után. In: Emlékkönyv Károly Árpád születése nyolcvanadik fordulójának ünnepére 1933 október 17. Budapest 1933, 512-535.
Allmayer-Beck, Johann Christoph: Vogelsang. Vom Feudalismus zur Volksbewegung. Wien 1952.
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