Blagoev, Dimitŭr, bulgarischer Politiker und Historiker, * Zagoričane (Mazedonien) 14.06.1856, † Sofia 7.05.1924.
Leben
Bewogen von dem Dorflehrer, einem glühenden bulgarischen Patrioten und Sozialisten, zog B. zu seinem Vater, einem Milchhändler in Konstantinopel, und trat in die dortige bulgarische Schule ein. Ihr Leiter, Petko R. Slavejkov, war, wie B. später schrieb, einer jener bulgarischen Nationalisten, die sich berufen fühlten, „in den Mazedoniern ein Gefühl nationaler Einheit mit den Bulgaren zu wecken und zu verankern und jeden jungen Mazedonier mit Freuden aufnahmen, der sich fähig erwies, die bulgarische nationale Idee in Mazedonien zu verkünden“. Slavejkov ermöglichte ihm eine Reise nach Rußland, wo er anfangs das Lehrerseminar in Odessa besuchte, später jedoch auf die Petersburger Universität überwechselte und hier mit den herrschenden radikalen und marxistischen Strömungen in Berührung kam. 1883 gründete er eine der ersten marxistischen Gruppen innerhalb Rußlands und gab eine Zeitung heraus. Seine politische Aktivität veranlaßte die russische Polizei, ihn 1885 des Landes zu verweisen, worauf er sich in Bulgarien niederließ.
In Sofia und anderen Städten, in denen er als Regierungsbeamter und Lehrer tätig war, fuhr B. fort, seine Ideologie zu propagieren und die Organisation einer bulgarischen marxistischen Partei anzustreben. Zusammen mit Gleichgesinnten (Janko Sakŭzov, Evtim Dabev, Nikola Gabrovski u.a.) war er maßgeblich an der Gründung der „Bulgarischen Sozialdemokratischen Partei“ im Jahre 1891 beteiligt, die jedoch von Anfang an durch Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Ziele wie der Taktik zerrüttet war. 1903 spaltete sich die Partei in einen radikalen Flügel, die sog. „Eng- sozialisten“ unter B., die eine enge Anlehnung ausschließlich an die Arbeiterklasse und die Doktrin des revolutionären Marxismus forderten, und in einen gemäßigten Flügel, die „Breitsozialisten“ unter der Führung von Janko Sakŭzov und anderer, die auf breiterer Basis, vor allem unter Einschluß des Bauerntums, das Programm eines evolutionären Marxismus zu verwirklichen suchten. Unterstützt von Jüngeren, wie Vasil Kolarov, Georgi Dimitrov u.a., formierte B. den radikalen Flügel zu einer in doktrinärer Hinsicht puristischen und organisatorisch disziplinierten, jedoch zahlenmäßig kleinen Partei, die bis zu den Kriegen von 1912/13 und 1915/18 und dem Unheil, das sie über Bulgarien brachten, ohne Vertretung in der Nationalversammlung blieb. Nach der ersten Katastrophe von 1913 errang die Partei 18 Sitze im Parlament, nach der zweiten im Jahre 1918 stieg ihre Zahl 1920 auf 50 und fiel 1923 wieder auf 16 Sitze. 1919 gliederte sie sich Lenins Dritter oder Kommunistischen Internationale an und bezeichnete sich selbst als „Bulgarische Kommunistische Partei“. Der Wählerzahl nach war sie die zweitgrößte Partei nach Aleksandŭr Stambolijskis Bauernunion, die bis zum Staatsstreich im Juni 1923 in Bulgarien an der Regierung war.
Der Parteiführer B. war gleichzeitig ihr führender Theoretiker. Als Produkt seiner russischen Erziehung stand er den russischen Marxisten, insbesondere Plechanov, nahe. 1914 jedoch kündigte er „dem Vater des russischen Marxismus“ die Gefolgschaft, als er einen russischen Sieg im Ersten Weltkrieg befürwortete; seitdem näherten sich die bulgarischen radikalen Sozialisten den von Lenin und den russischen Bolschewisten verfochtenen Positionen. Dessen ungeachtet blieb B. ein Engsozialist besonderer Art und scheiterte als Leninist und Bolschewist an seinen Ansichten über die heiklen Themen der Agrarfrage, der Notwendigkeit einer Übereinkunft mit dem Bauerntum und „revolutionärer Kompromisse“, sowie an anderen taktischen Problemen. Infolge seiner unnachgiebigen „engen“, von der jetzigen Parteihistoriographie verurteilten Haltung weigerte er sich vor den Kriegen, Kompromißvereinbarungen mit anderen radikalen Parteien einzugehen, lehnte 1918 Stambolijskis Bündnisangebot zum Zwecke der Machtübernahme ab und betrachtete die Bauernunion, nachdem diese an die Regierung gekommen war, als den Hauptfeind, den es unerbittlich zu bekämpfen galt. In dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen der Bauernregierung und ihren Gegnern sahen B. und die Partei den Kampf zwischen der städtischen und ländlichen Bourgeoisie, in dem es sich empfahl, neutral zu bleiben. Darauf ist es zurückzuführen, daß die Partei bei den schicksalsschweren Ereignissen im Juni 1923, bei denen der Bauernherrschaft in Bulgarien ein Ende gemacht und Stambolijski von Anhängern der IMRO ermordet wurde, abseits stand. Damit war aber auch die Existenz der kommunistischen Partei in Frage gestellt. Zu spät wurde die Parteilinie nach den Direktiven der Kommunistischen „Internationale" geändert, ein Bündnis mit der Bauernschaft angestrebt und im September 1923 unter der Führung Kolarovs und Dimitrovs ein mißglückter Aufstand inszeniert. Zu alt, um sich der neuen Parteilinie anpassen und an dem Aufstand teilnehmen zu können, starb B. im Mai 1924 in Sofia.
B.s theoretische und historische Studien über den Marxismus in Bulgarien, sowie seine politischen, literarischen und publizistischen Schriften sind in den 20-bändigen „Sŭčinenija“ (Sofia 1957/64) gesammelt und im Index „Spravočnik kŭm sŭčinenijata na Dimitŭr Blagoev“ (Sofia 1967) aufgegliedert.
Literatur
Christov, Christo und K. Vasiliev: Dimitŭr Blagoev. Sofija 1956.
Lichačeva, L.: Dimitŭr Blagoev (1856-1924), Biobibliografičeskij ukazatelj. Moskva 1956.
Rothschild, Joseph: The Communist Party of Bulgaria. Origins and development 1883-1936. New York 1959 (mit Bibliographie).
Ovsjanikova, S.: Grupata na Blagoeva. Sofija 1960.
Istorija na BKP 1885-1944. Bibliografija . Materiali publikuvani sled sept. 1944 g. Sofija 1965.
Pundeff, Marin: Marxism in Bulgaria before 1891. In: Slavic Rev. 30 (1971) 523-550.