Drinov, Marin Stojanov Stepanovič

GND: 120165376

Drinov, Marin Stojanov Stepanovič, bulgarischer Historiker, Philologe und Politiker, * Panagjurište 20.10. 1838, † Charkow 13.03.1906, aus einer armen Handwerkerfamilie.

Leben

D. verbrachte seine Schulzeit in Panagjurište, wo er dann auch als Lehrer tätig war. 1858 ging er zum Studium nach Rußland. Nach entsprechender Vorbereitung auf dem Kiewer Geistlichen Seminar studierte er an der Moskauer Universität slawische Philologie und Geschichte (1861-1865). Nach Beendigung seines Studiums wurde D. Hauslehrer bei den Kindern der russischen Fürstin E. A. Golicyna, die ihn auf ihre Reisen nach Westeuropa mitnahm. Den Aufenthalt in den europäischen Kulturzentren (Wien, Prag, Paris, Genf, Rom, Neapel) benutzte D. zum Besuch von Bibliotheken, Archiven und Museen, um Material zur Geschichte, Sprache und Kultur des bulgarischen Volkes zu sammeln. Ab 1866 erschienen seine ersten Artikel. Mit journalistischer und wissenschaftlicher Feder kämpfte er für Bulgariens Kirchenrechte und nationale Unabhängigkeit. Zur Förderung der geistigen Entwicklung der Bulgaren gründete er zusammen mit Vasil Stojanov und Vasil Drumev am 29. September 1869 in Brăila die bulgarische wissenschaftlich-literarische Gesellschaft (Bŭlgarsko knižovno družestvo), die spätere „Bulgarische Akademie der Wissenschaften“ und wurde deren erster Vorsitzender. 1871 ging D. an die Universität Charkow und wurde dort 1873 Magister und Dozent und 1876 bis zu seinem Tode Professor für slawische Geschichte und Philologie.
Zur Zeit des Aprilaufstandes, an dem auch sein Bruder Najden teilnahm, und der „türkischen Greuel“ (1876) warb D. bei der russischen Öffentlichkeit um Unterstützung des bulgarischen Kampfes zur Befreiung von der Türkenherrschaff. Während D. bisher glaubte, daß die Befreiung der Bulgaren durch Aufklärung und über eine nationale Kirche erfolgen müsse, gelangte er unter dem Eindruck der Ereignisse von 1876 zu der Auffassung, daß ein bewaffneter Aufstand mit russischer Unterstützung zwar „ein blutiger, aber ein richtigerer und kürzerer Weg“ sei. Im russisch-türkischen Krieg (1877-1878) diente D. dem russischen Administrator Fürst Vladimir A. Cerkasskij als Berater und Helfer. 1877 wurde er Zivilgouverneur von Sofia. Vom Mai 1878 bis April 1879 leitete D. die Kultusabteilung der russischen provisorischen Regierung in Bulgarien; während seiner Amtszeit schuf er die Grundlagen des bulgarischen Unterrichts- und Bildungswesens. Er sorgte für die Wiedereröffnung der während der Kriegsereignisse geschlossenen Volksschulen, gründete auf Landeskosten einige Mittelschulen, führte allgemein verbindliche Unterrichtsprogramme, staatliche Schulinspektion und Stipendien ein. Der „Vater der bulgarischen Bildung“ (Ganovski) gründete auch die Sofioter Bibliothek, die jetzige Staatsbibliothek (Narodna biblioteka „Kiril i Meto- dij“). Als einziger Bulgare in der provisorischen Regierung des Fürsten Aleksandr Michajlovič Dondukov-Korsakov fungierte D. als Mittler zwischen Russen und Bulgaren. Auf sein Drängen hin wurde Sofia zur Hauptstadt des Fürstentums Bulgarien erhoben.
Nach Ablösung der russischen Verwaltung in Bulgarien kehrte D. nach Charkow zurück, um die russisch-bulgarischen Verbindungen zu fördern. Nach Aufhebung der Verfassung 1881 wurde D. erneut nach Bulgarien berufen und mit der Ausarbeitung des Planes zur Bildung eines Staatsrates betraut, dessen Vorsitz er auch übernehmen sollte. Als er jedoch mit seiner Forderung nach ausschließlicher Wahl des Staatsrates durch das Volk gegenüber dem bulgarischen Fürsten Alexander nicht durchdrang, zog er es vor, endgültig in seine „zweite Heimat“ Rußland zurückzukehren und weiter an der Universität Charkow zu lehren.
Zeit seines Lebens war D. „die lebendige Verkörperung der Verbindung zwischen Rußland und Bulgarien“ (Nikitin). Während des Bruchs zwischen Rußland und Bulgarien (ab 1886) vermied D. offizielle Kontakte zum Fürstentum, kümmerte sich aber um die Ausbildung junger Bulgaren in Rußland. Unter ihnen war auch der prominente Engsozialist Dimitŭr Blagoev, dem D. zu einem Stipendium verhalf.
D. gilt als der Begründer der bulgarischen Geschichtswissenschaft. Seine Arbeiten zur bulgarischen Geschichte und Kultur waren aber nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern stärkten darüber hinaus das nationale Selbst- und Geschichtsbewußtsein der Bulgaren in ihrem Kampf gegen die kulturelle Bevormundung durch die griechischen Phanarioten und die politische Beherrschung durch die Türken. Der Überwindung der kulturellen Rückständigkeit der Bulgaren diente insbesondere D.s Entwurf einer einheitlichen, der Gegenwartssprache angepaßten Orthographie. 1899 wurde sein Reformvorschlag von Kultusminister Todor Ivančev zur offiziellen bulgarischen Orthographie erhoben, die bis 1921 in Kraft blieb.
Zu den bedeutenderen Werken D.s zählen: „Pogled vrŭch proischoždaneto na bŭlgarskija narod i načaloto na bŭlgarskata istorija“ (Überblick über die Entwicklung des bulgarischen Volkes und den Beginn der bulgarischen Geschichte, Wien 1869), „Istoričeski pregled na Bŭlgarskata cŭrkva“ (Historischer Überblick über die bulgarische Kirche, Wien 1869), „Za novobŭlgarskoto azbuke“ (Für ein neubulgarisches Alphabet, Moskau 1870). D.s Magisterarbeit erschien 1872 in Moskau unter dem Titel „Zaselenie Balkanskogo poluostrova slavjanami“ (Die Besiedelung der Balkanhalbinsel durch die Slawen). Drei Jahre später erschien ebenfalls in Moskau seine Doktorarbeit „Južnye slavjane i Vizantija v X veke“ (Südslawen und Byzanz im 10. Jh.). Nach dem Tod von D. wurde die Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlicht (Sŭčinenija na M. S. Drinova. 3 Bde. Sofia 1909-1915).

Literatur

Sbornik Chaŕkovskago istoriko-filologičeskago obščestva, posvjašten M. S. Drinovu. Bd 15. Chaŕkov 1908.
Nikitin, Sergej Aleksandrovič: M. S. Drinov kak istorik. In: Krat. Soobšč. Inst. Slavjanoved. 21 (1957) 3-12.
Ganovski, Sava: Deloto na Marin Drinov. In: Spis. Bŭlg. Akad. Nauk. (1958) 4, 17-29.
Izsledvanija v čest na M. S. Drinov. Sbornik. Sofija 1960.
Todorov, Goran D.: Profesor Marin S. Drinov i dŭržavnijat prevrat v Knjažestvo Bŭlgarija prez 1881 g. In: Izv. Inst. bŭlg. Ist. 16/17 (1966) 233-268.
Karandžulova, V.: Bŭlgarski učeni po vŭprosa za slavjanskata prarodina. In: Ezik i Lit. 23 (1968) 86-92.
Žečev, Nikolaj: Braila i bŭlgarskoto kulturno Vŭzraždane. Sofija 1970.

Verfasser

Hans-Joachim Hoppe (GND: 143931040)

Empfohlene Zitierweise: Hans-Joachim Hoppe, Drinov, Marin Stojanov Stepanovič, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 436-438 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=758, abgerufen am: 23.11.2024