Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Masaryk, Tomáš Garrigue
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Masaryk, Tomáš Garrigue

 Masaryk, Tomáš Garrigue, tschechischer Staatsmann und Soziologe, * Hodonín (Göding, Mähren) 07.03.1850, † Schloß Lana bei Prag 14.09.1937.

Leben

 Der einer slowakisch-deutschen Ehe entstammende M. beendete 1872 das Gymnasium in Wien, wo er anschließend Philosophie studierte. Drei Jahre nach der Promotion (1876) habilitierte er sich mit einer sozialpsychologischen Arbeit. 1882 wurde er a. o. Professor, 1897 Ordinarius an der neuen tschechischen Universität in Prag. Als „kritischer Realist“ setzte er sich mit dem Erbe der tschechischen politischen Romantik aus der Zeit der nationalen „Wiedergeburt“ auseinander. 1900 gründete er seine linksgerichtete „Tschechische Volkspartei“ (ab 1905 „Tschechische Fortschritts- oder Realistenpartei“), eine der kleinsten Gruppierungen im österreichischen Parlament. 1891 wurde er von den Jungtschechen, 1907 als Führer der „Realistenpartei“ in den Wiener Reichsrat gewählt. Seine parlamentarische Tätigkeit bis 1913 zeichnete sich vor allem durch eine undoktrinäre und realistische Einstellung zur nationalen Frage aus. Sein politisches Programm beruhte auf der Überzeugung, daß die tschechische Sache nicht auf den historischen Privilegien des böhmischen Staatsrechts, sondern auf der gleichberechtigten Stellung des tschechischen Volkes unter allen anderen gleichberechtigten österreichischen Nationalitäten aufgebaut werden müsse. Gleich Palacký hielt er an der österreichischen Reichsidee fest (Austroslawismus), bekämpfte jedoch die undemokratische Nationalitätenpolitik der führenden Politiker in Wien und Budapest. Erst nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges sagte er sich endgültig von der österreichischen Reichsidee los. Seine antiautoritäre, dem Ideal der „Humanität“ verpflichtete Staatsphilosophie führte ihn als Propagandisten tschechischer Eigenstaatlichkeit in das Lager der westlichen Alliierten. 1917 organisierte er aus Überläufern und Gefangenen die Tschechische Legion in Rußland, 1918 handelte er den Pittsburger Vertrag zwischen tschechischen und slowakischen Emigranten aus und im Oktober dieses Jahres wurde er Präsident einer provisorischen Regierung. Als eigentlicher Gründer der Tschechoslowakei wurde er 1918, 1920, 1927 und 1934 zum Staatspräsidenten gewählt. Im Dezember 1935 trat er aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt zurück. Von seinen Schriften haben vor allem „Česká otázka“ (Die tschechische Frage, Prag 1895), „Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus. Studien zur socialen Frage“ (Wien 1898), „Rußland und Europa. Studien über die geistigen Strömungen in Rußland“ (2 Bde, Jena 1913) und „Světová revoluce. Za války a ve válce 1914-1918“ (Prag 1925; dt. Ausgabe: „Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914-1918“, Berlin 1925) bleibende Bedeutung erlangt. Bis 1914 bestand M.s großer Beitrag zur Entwicklung der Nationalitätenfrage im Rahmen des habsburgischen Gesamtstaates weniger in einer aktiven politischen Führung als in dem „Einfluß seiner immer stärker werdenden geistigen Führerschaft durch die ungeheure Wirkung seiner Persönlichkeit als Philosoph, akademischer Lehrer und Wissenschaftler auf die tschechische und weitgehend auch auf die jugoslawische junge Intelligenz“ (Robert A. Kann). Zwischen 1895 und 1912 standen vier Generationen kroatischer, serbischer und slowenischer Studenten aus den südslawischen Gebieten der Monarchie (unter ihnen die späterbekannten Politiker Stjepan Radić, Svetozar Pribičević, Josip Smodlaka, Većeslav Vilder, Ivan Ribar sowie die slowenischen Sozialisten Anton Dermota und Dragutin Lončar) unter M.s Einfluß. Die wegen der öffentlichen Verbrennung der ungarischen Fahne auf dem Jelačić-Platz in Zagreb 1905 von der Universität relegierten Studenten setzten auf Anraten Radićs ihre Studien bei M. in Prag fort. Sie distanzierten sich von der historischen kroatischen Staatsrechtstheorie und propagierten als „kritische Realisten“ über die in Prag und Wien 1897-1899 erschienenen Zeitschriften „Hrvatska Misao“ (Kroatischer Gedanke), „Novo Doba“ (Neue Zeit) sowie über die 1904 in Zagreb gegründete „Kroatische Fortschrittspartei“ (Hrvatska napredna stranka, Ivan Ribar u. a.) eine kroatisch-serbische Verständigung, die schließlich zur Parteienkoalition von 1906 und damit zu einem tiefen Einschnitt in der Vorkriegsgeschichte Kroatiens führte. M. selbst hat sich wiederholt mit der „südslawischen Frage“ engagiert beschäftigt. Schon 1892 übter er in den Delegationen scharfe Kritik am Regime Benjámin Kállays in Bosnien und forderte eine administrative Autonomie für die okkupierten Gebiete. Anläßlich der Annexion Bosniens und der Herzegowina 1908 griff er abermals in den Delegationen Graf Aehrenthal heftig an. Die 1909 gegen serbische Politiker in Kroatien erhobene Beschuldigung des Hochverrats, mit der nicht nur die Annexion Bosniens und der Herzegowina gerechtfertigt, sondern auch die Kroatisch-serbische Koalition in ihrer Existenz getroffen werden sollte, veranlaßte M. im Zusammenhang mit dem Agramer Hochverratsprozeß und dem Wiener Friedjung-Prozeß, umfangreiches Material zur Entlastung der südslawischen Politiker zu sammeln. In den Delegationen machte er Aehrenthal für die angeblich mit Wissen des österrechischen Gesandten in Belgrad Johann Graf Forgách erfolgten Dokumentenfälschungen indirekt verantwortlich (vgl. sine Schriften: „Der Agramer Hochverratsprozeß und die Annexion von Bosnien und Herzegowina“, Wien 1909 und „Vasić-Forgách-Aehrenthal. Einiges Material zur Charakteristik unserer Diplomatie“, Prag 1911). Dadurch und durch den Prozeßverlauf selbst wurde das Ansehen der Doppelmonarchie im In- und Ausland schwer beeinträchtigt und die Beziehungen zu Serbien weiter verschärft. Ende 1912 versuchte M. vergeblich, zwischen Außenminister Graf Berchtold und dem serbischen Ministerpräsidenten Nikola Pašić zu vermitteln. Auch ein kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges unternommener Versuch, Serbien und Bulgarien einander anzunähern, blieb erfolglos. Ab Dezember 1914 hielt sich M. in der Emigration (Italien, Schweiz, Frankreich, Großbritannien, Rußland und den USA) auf. Er stand in engem Kontakt zum Südslawischen Komitee in London (Franjo Supilo, Ante Trumbić u. a.) sowie zu mehreren serbischen Diplomaten und einflußreichen britischen Persönlichkeiten (insbesondere Robert William Seton-Watson und Henry Wickham Steed). M. betrachtete Serbien als Kristallisationszentrum eines künftigen südslawischen Staates und führte in diesem Sinn Gespräche mit dem serbischen Thronfolger Alexander Karadjordjević und Ministerpräsident Pašić. In Unterredungen mit Trumbić und dem rumänischen Politiker Take Ionescu in Paris wurden außerdem bereits die Grundrisse der künftigen Kleinen Entente vorgezeichnet, deren Mitglieder durch einen „Korridor“ zwischen der Tschechoslowakei und Jugoslawien eng miteinander verbunden werden sollten. Insgesamt hat M. durch seine Aktivitäten in der Emigration erheblich zur Vorbereitung der Nachkriegsordnung beigetragen, weshalb er im neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen nach Kriegsende ein hohes Ansehen genoß.

Literatur

Prohaska, Dragutin: T. G. Masaryk i Jugoslovenstvo. In: Jugoslovenska Njiva 9 (1925) 1, 185-191.
T. G. Masarik. Zbornik. Priredila Jugoslovensko-čehoslovačka liga u Beogradu. Red.: Dragutin Prohaska. Beograd, Praha 1927.
Politeo, Ivo: Masarik i Hrvati. In: Srpski književni glasnik, N. S. 29 (1930) 6, 443-447.
Šišić, Ferdo: Prezident Masarik i Jugoslaveni. In: Sveti Sava (1934) 30-38.
Jakovenko, Boris: La Bibliographie de T. G. Masaryk. Prague 1935.
Paulová, Milada: Tomáš G. Masaryk a Jihoslované. In: Československo-jihoslovanská revue 7 (1937) 241-287.
Malbaša, Ante: Hrvatski i srpski nacionalni problem u Bosni za vrijeme režima Benjamina Kallaya. Osijek [1940], 89-130.
Sirotković, Hodimir: Pravni i politički aspekti procesa „Reichspost“-Friedjung. In: Starine JAZU 52 (1962) 49-184.
Gogolák, Ludwig von: T. G. Masaryks slowakische ungarländische Politik. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Zerfalls Ungarns im Jahre 1918. In: Bohemia 4 (1963) 174-227.  

Verfasser

Holm Sundhaussen (GND: 120956055)

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Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd118578626.html


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Empfohlene Zitierweise: Holm Sundhaussen, Masaryk, Tomáš Garrigue, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 112-114 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1302, abgerufen am: (Abrufdatum)

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