Tagányi, Károly, ungarischer Historiker und Archivar, * Neutra (Nyitra) 19.03.1858, † Budapest 9.09.1924.
Leben
T. besuchte das katholische Hauptgymnasium in Neutra; anschließend studierte er an der Philosophischen Fakultät der Universität Budapest, wo er bereits jener Generation von Lernenden angehörte, die erstmals eine fundamentale und systematische Ausbildung auf dem Gebiet der historischen Hilfswissenschaften erhielt. 1880 bekam er eine Stelle am Ungarischen Landesarchiv, an dem er bis zu seiner Pensionierung tätig war.
T.s stark vom Katholizismus geprägte Haltung kommt in seinen sozial- und wirtschaftshistorischen Werken nicht bzw. nur mittelbar zum Ausdruck. T. ist einer der wenigen Geschichtsschreiber, deren wissenschaftliches Rüstzeug und Wissenspotential sich nicht deutlich in ihrem literarischen Werk widerspiegelt. Seine Studie ,,A földközösség története Magyarországon“ (Geschichte der Feldgemeinschaft in Ungarn, Budapest 1894) gilt noch heute als ein Grundwerk der Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters. Zwei Jahre später, 1896, veröffentlichte er in Budapest sein dreibändiges Werk „Magyar erdészeti oklevéltár 1015-1867“ (Urkundenbuch des ungarischen Forstwesens). Mit seiner Beschreibung des Landesarchivs „A régi Országos Levéltár“ (Budapest 1897) ging T. als erster Verfasser einer derartigen Schrift, in der die Forderungen des Provenienzprinzips konsequent berücksichtigt und angewendet wurden, in die Literatur der europäischen Archivistik ein. 1898 folgte sein ,,A magyar udvari kanczelláriai levéltár“ (Das Archiv der ungarischen Hofkanzlei). Angeregt durch die Methoden der europäischen Folkloreliteratur entstand die Arbeit ,,A hazai élő jogszokások gyűjtéséről“ (Budapest 1919, deutsch: Lebende Rechtsgewohnheiten und ihre Sammlung in Ungarn, Berlin, Leipzig 1922), in der er den Vorschlag machte, aufgrund des Studiums des gegenwärtigen Brauchtums der osteuropäischen Völker eine komparative Untersuchung des Brauchtums der Gesellschaft des Mittelalters durchzuführen.
T. war der Typ eines „exzerpierenden Historikers“. Mehr als 30 Bände umfaßt das Material, das er als Aufzeichnungen aus der Literatur der deutschen und französischen Archivistik, der Volkskunde, der mittelalterlichen Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte sowie aus Zeitschriften in slawischen Sprachen zusammengetragen hat. Seine fundierten Kenntnisse der europäischen Literatur und seine Erfahrungen im ungarischen Archivwesen (neben den Zentralarchiven kannte er ebenso die Archive in der Provinz) kamen auch seinen Schülern zugute - besonders nahe standen ihm Gyula Szekfü, Bálint Hóman und Ferenc Eckhart. In der Zeit von 1894 bis 1901 arbeitete T. als Verleger der Zeitschrift „Magyar Gazdaságtörténeti Szemle“ (Ungarische wirtschaftsgeschichtliche Rundschau), die sich bahnbrechend darum bemühte, die in der ungarischen Geschichtsschreibung dominierende politisch-historische Richtung zu überwinden. T.s Werk blieb - obwohl er als einer der besten Geschichtsschreiber seiner Zeit anzusehen ist- über mehrere Jahrzehnte hinweg ohne Beachtung. Erst 1950 wurde seine Arbeit über die Feldgemeinschaft von Erik Molnár neu ediert und mit einem Vorwort versehen.
T. war ab 1897 Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, ab 1916 gehörte er dem wissenschaftlichen Forum der katholischen Kirche in Ungarn, der Szent István Akademie, an.
Literatur
Molnár, Erik: [Vorwort zu] Tagányi, Károly: A földközösség története Magyarországon. Budapest 1950.
Rottler, Ferenc: Erdélyi László történetírása. [Mskr. der Eötvös Loránd Universität Budapest). Budapest 1965.
Lederer, Emma: A magyar polgári történetírás rövid története. Budapest 1969.
Izsépy, Edit: A Magyar Gazdaságtörténelmi Szemle történetéhez. In: Századok 103 (1969) 1077-1103.
Glatz, Ferenc: Történettudomány és történeti-politikai koncepció. (Diss.) Budapest 1975.