Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Cvijić, Jovan
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Cvijić, Jovan

Cvijić, Jovan, serbischer Geograph und Ethnograph, * Loznica 12.10. 1865, † Belgrad 16.01.1927, aus einer serbischen Kaufmannsfamilie des Drinagebietes.

Leben

Nach den Gymnasialstudien in Loznica, Sabac und Belgrad und nach Absolvierung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Abteilung der Belgrader Hochschule war C. vorübergehend als Gymnasiallehrer tätig. 1889-1892 studierte er an der Universität Wien bei den Begründern der modernen physischen Geographie, Meteorologie und Klimatologie, Albrecht Penck, Eduard Sueß und Joseph Hamm, und legte bei ihnen mit einer Arbeit über das Karstphänomen das Doktorat aus Geographie und Geologie ab. Er wurde 1893 Professor an der Hochschule in Belgrad, wo er 1894 das Geographische Institut begründete und war dann bis zu seinem Tod als Professor an der Universität Belgrad tätig, 1907/08 und 1919/20 als deren Rektor. Während des Ersten Weltkrieges emigrierte er 1915 in die Schweiz, dann nach Frankreich, wo er 1917 bis 1918 Vorlesungen an der Sorbonne hielt und dann im Ethnographischen Ausschuß der Friedensdelegation mitwirkte.
Seine wissenschaftliche Arbeit begann C. bereits als Student an der Belgrader Hochschule mit Terrainuntersuchungen zunächst in Serbien, später in den übrigen Balkangebieten, wobei sein Hauptinteresse den geomorphologischen, hydrographischen und tektonischen Erscheinungen, vor allem dem Karstphänomen und den Glazialformen auf dem Balkan galt, später, besonders ab 1896 den anthropogeographischen, siedlungsgeographischen und ethnopsychologischen Problemen. In seiner 1887 einsetzenden Publikationstätigkeit wurden vor allem seit 1893 seine Publikationen über das Karstphänomen und die Gletscherprobleme (auch deutsch in den „Geographischen Abhandlungen“, Bd 5, Wien 1896, in der „Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin“ 1898, den „Abhandlungen der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien“ 1901 und 1908, den „Sitzungsberichten der Wiener Akademie“ 1901, den „Petermann’s Mittheilungen“, Gotha 1908 sowie französisch 1903, 1917, 1918) bahnbrechend. An synthetisch zusammengefaßten Werken liegen von ihm vor die Grundlagen einer Anthropogeographie der Balkanhalbinsel: Die ursprüngliche französische Fassung der Pariser Vorlesungen „La Péninsule balkanique, géographie humaine“ (1918), dann erweitert „Balkansko poluostrvo i južnoslovenske zemlje“ (2 Bde, 1922/31), ferner die zwei Bände Geomorphologie (Geomorfologija, 1924/26) und seine Reden und Aufsätze über nationale und ethnopsychologische Fragen in 4 Bänden (Govori i članci, 1921/23).
Von den nationalen und internationalen wissenschaftlichen Anerkennungen für C. sind zu nennen: Präsident der „Serbischen Akademie der Wissenschaften“ (ab 1921), Mitglied der jugoslawischen, tschechischen, und sowjetrussischen Akademien, der „Gelehrtengesellschaft Parnasos“ in Athen und Ehrendoktor der Universitäten Prag und Paris. Er erhielt die goldenen Medaillen der geographischen Gesellschaften in London, Paris und Washington.
Die dauernde wissenschaftliche Leistung und Bedeutung von C. liegt darin, daß er die physische ebenso wie die Anthropo- und Kulturgeographie der Balkanhalbinsel auf eine neue wissenschaftliche Grundlage stellte durch systematische Terrainforschung und durch die von ihm in der „Serbischen Akademie der Wissenschaften“ 1892 bzw. 1908 ins Leben gerufene Reihe „Naselja i poreklo stanovništva“ (Siedlungen und Herkunft der Bevölkerung); daß er anderseits in seinem Werk über die Anthropogeographie der Balkanhalbinsel eine Synthese versucht hat, ausgehend von den geomorphologischen, physisch-geographischen Grundlagen in der eurasischen Brückensituation, die ländlichen und städtischen Lebens- und Siedlungsformen nach der von der Natur gegebenen und von der Geschichte geformten typologischen Gliederung in den einzelnen Kulturzonen, in der metanastatischen Siedlungs- und Migrationsbewegung sowie in der gesellschaftlichen und psychischen durch die Anpassung des Menschen an das Milieu erfolgten Evolution zu charakterisieren, außerdem in zahlreichen Einzelstudien die psychischen und sozialen Typen der Südslawen bis in die Gegenwart zu analysieren. Diese Leistung bleibt bestehen, auch wenn ihm von kroatischer Seite aus nationalen Gründen (Ivan Krmpotić) der Vorwurf gemacht wurde, daß er den kroatisch-pannonischen Typ zugunsten des serbisch-dinarischen patriarchalen Typus vernachlässigt und nicht gerecht beurteilt habe. C. schuf nicht nur in seinem jugoslawischen Heimatland eine eigene anthropogeographische Schule, die mit zahlreichen bedeutenden Vertretern bis in die Gegenwart nach wirkt; er hat auch durch seine in deutschen und französischen Fachorganen erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten fruchtbaren Einfluß gewonnen auf die allgemeine Entwicklung der anthropogeographischen Wissenschaft überhaupt. Auch die deutsche Forschung, wie z. B. Gerhard Gesemann, Alois Schmaus und Josef Matl, hat von C. vor allem hinsichtlich der Beurteilung des Charakters und der Bedeutung der mentalen und sozialen archaischen Kulturformen Wesentliches gelernt.

Literatur

Filipović, Milenko: Cvijićeva antropogeografska škola. In: Geogr. Pregl. 1 (1957) 9-24.
U spomen tridesetogodišnjice smrti Jovana Cvijića. Beograd 1957. = SAN. Posebna izdanja. 276.
Radovanović, Vojislav: Jovan Cvijić. Beograd 1958.

Verfasser

Josef Matl (GND: 127706267)


GND: 119378795

Weiterführende Informationen: https://prometheus.lmu.de/gnd/119378795

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Empfohlene Zitierweise: Josef Matl, Cvijić, Jovan, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 353-355 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=698, abgerufen am: (Abrufdatum)

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