Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Stambolijski, Aleksandŭr Stoimenov
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Stambolijski, Aleksandŭr Stoimenov

Stambolijski (auch Stambulijski), Aleksandŭr Stoimenov, bulgarischer Staatsmann und Bauernführer, * Slavovica (Kreis Pazardžik) 01.03.1879, † (ermordet) ebd. 14.06.1923.

Leben

 St., mittelbäuerlicher Herkunft, besuchte die Grundschule, die Landwirtschaftsschule und schließlich die Weinbauschule (in Pleven bis 1898). Darauf Lehrer, kümmerte er sich um die Nöte der Bauern und gab den Anstoß zur Gründung eines Bauernvereins, von dem er dann zum Gründungskongreß der Bulgarischen Agrarunion (Bŭlgarski zemedelski naroden sŭjuz) im Dezember 1899 in Pleven entsandt wurde. 1900-1902 studierte er in Leipzig und Halle Landwirtschaft. Nach Bulgarien zurückgekehrt, wurde St. Redakteur des Organs der Agrarunion „Zemedelsko Zname“ (Landwirtschaftsfahne). In dieser Funktion kämpfte er für die Umwandlung der Agrarunion von einem losen beruflich-aufklärerischen Interessenverband in eine bäuerliche Partei mit ständisch-politischem Programm und radikalen, antimonarchistischen Zügen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege war die Annahme des von St. ausgearbeiteten Programms auf dem 7. Agrarierkongreß in Tŭrnovo (November 1905). 1908 wurde St. Parlamentsabgeordneter; von 1913 bis 1915 stand er an der Spitze der inzwischen stark angewachsenen Parlamentsfraktion der Agrarunion. 1909 erschien seine bedeutendste Schrift „Političeski partii ili sŭslovni organizacii“ (Politische Parteien oder Ständeorganisationen). Mit seinen theoretischen Beiträgen, mit Redegewalt, organisatorischer Begabung und rustikalem Temperament wurde St. bald zum geachteten und weithin populären Führer der Agrarpartei. Im Parlament wandte er sich gegen die Mißregierung der städtisch-bürgerlichen Parteien, die autoritären Praktiken des Zaren Ferdinand und dessen Vorhaben, Bulgarien in den Ersten Weltkrieg hineinzuziehen. Auf dem denkwürdigen Empfang der Oppositionsführer bei Ferdinand am 4. September 1915 warnte St. den Zaren, er werde seine Kriegspolitik einst mit dem Kopf bezahlen. Kurz nach seinem Rededuell wurde St. wegen Hochverrats zu lebenslangem Kerker verurteilt. Während St. in Haft war, billigten die Agrarier im Parlament unter dem Einfluß der Gemäßigten (Dimitŭr Dragiev) die Kredite der Regierung für den Krieg auf seiten der Mittelmächte. Doch als nach anfänglichen Erfolgen die Lage Bulgariens 1917/18 immer prekärer wurde, führten die Agrarier gemeinsam mit den Engsozialisten eine Kampagne gegen die Fortsetzung des Krieges. Am 25. September 1918 wurde St. auf Weisung des Zaren freigelassen und nach Kjustendil und Radomir geschickt, um mit dem Gewicht seiner Popularität die meuternden Bauern-Soldaten zur Rückkehr an die Front zu bewegen. Doch schließlich stellte er sich zusammen mit Rajko Daskalov an die Spitze der Revolte und tauchte nach deren Niederwerfung in die Illegalität unter. Von Ferdinands Nachfolger Zar Boris III. begnadigt, wurde St. im Januar 1919 Minister im Kabinett Teodor Teodorov und nach den August-Wahlen (Agrarunion stärkste Partei) am 6. Oktober 1919 Chef einer Koalitionsregierung, der am 27. November 1919 die undankbare Aufgabe der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Neuilly zufiel. Nach Brechung des kommunistisch geführten Transportarbeiterstreiks im Winter 1919/20 und nach Neuwahlen im März 1920 bildete St. am 21. Mai 1920 eine reine Agrarier-Regierung. Diese war, von den Siegermächten und den Nachbarstaaten (1920/21 Bildung der „Kleinen Entente“) beargwöhnt, zu Neutralität und strikter Erfüllung der Friedensbestimmungen gezwungen. Den außenpolitischen Spielraum Bulgariens suchte St. durch eine Verständigung vor allem mit Jugoslawien und durch freundliche Gesten gegenüber Sowjetrußland wie Nichtteilnahme an der Entente-Intervention, Weizenlieferungen während der Hungersnot 1921 und Einlaß einer sowjetischen Rotkreuz-Mission zu erweitern; ein bulgarisches „Rapallo“ während der Konferenz in Genua (April/Mai 1922) wagte er jedoch nicht. - Auf zahlreichen Reisen bemühte sich St. um den Zusammenschluß der osteuropäischen Bauernparteien in einer „Grünen Internationale“, die er als Kern einer künftigen - zwischen dem kapitalistischen Westen und dem bolschewistischen Rußland gelegenen - Föderation osteuropäischer Bauernstaaten betrachtete. Immerhin wurde 1921 in Prag ein ständiges Büro der „Grünen Internationale“ eingerichtet. - Die Verständigung mit Jugoslawien sollte den Bulgaren nicht nur Unterstützung in der Frage des Ägäiszugangs (gegen Griechenland), sondern schließlich die Einigung aller Südslawen in einem großen Balkanstaat bringen. Für dieses Ziel war St. bereit, die bulgarischen Mazedonienansprüche und sogar den Thron des Zaren Boris III. zu opfern. Seine Gespräche mit Nikola Pašić im Herbst 1922 und das hauptsächlich gegen mazedonische Bandentätigkeit gerichtete Abkommen von Niš (23.03.1923) bewirkten jedoch eine Ernüchterung. Durch seine Außenpolitik machte sich St. besonders die Mazedonier, durch seine irrationale, von antistädtischen Ressentiments geleitete Innen- und Wirtschaftspolitik das gesamte Bürgertum zum Feind. Sein Reformprogramm (Arbeitsdienst, Bodenreform, Förderung der Kooperativen, neues Kredit- und Steuersystem, staatliche Wirtschaftskonsortien) war einseitig auf die Verbesserung der Lage der Bauern ausgerichtet. Nach verbreiteter Meinung hätte die Förderung der Industrie und des Handels hinzukommen müssen, um Bulgarien von seinen chronischen Übeln (ländliche Überbevölkerung, Unterbeschäftigung und Unterkonsum) zu heilen. Vor allem setzte St. mit seinen Regierungsmethoden nicht nur die unter seinen Vorgängern eingebürgerten Traditionen der Manipulation, Gewalt und Korruption fort, sondern verfolgte die Sicherung der permanenten Agrarierherrschaft, die er aus dem überwiegend bäuerlichen Charakter Bulgariens (80% der Bevölkerung) rechtfertigte. Diese Exklusivität seines Regimes, darüber hinaus die Aktionen seiner Parteimiliz „Oranževa Guarda“ (Orangegarde), die Tyrannei seiner korrupten Funktionäre (auch auf den Dörfern) sowie die Unterordnung des Parlaments unter die demagogisch geführten Agrarierkongresse drängten vielen Zeitgenossen den Vergleich von St.s „Bauerndiktatur“ mit Lenins „Diktatur des Proletariats“ auf, zumal die Agrarierregierung zeitweilig mit den Kommunisten kooperierte. Nach Entwaffnung der Wrangel-Armee, Überfall der Orangegarde auf mehrere Oppositionsführer bei Dolni Dŭbnik (September 1922), Kriegsverbrecher-Referendum (November 1922), Aburteilung und Internierung wichtiger Oppositionspolitiker hielt St. die Macht der bürgerlichen Parteien, die sich im Juli 1922 zum „Konstitutionsblock“ zusammengeschlossen hatten, für gebrochen. In seiner eigenen Partei überwarf er sich mit dem gemäßigten Flügel. Als dann die Agrarunion bei den Parlaments wählen am 23. April 1923 in einer Atmosphäre der Einschüchterung 57% der Stimmen und 88% der Sitze erhielt, fühlte sich St. stark genug, um auch gegen die anderen politischen Kräfte - die Kommunistische Partei und die Mazedonierorganisation - vorzugehen. Außerdem kursierten Gerüchte, daß er die königlichen Prärogative einschränken oder sogar eine Republik einführen wolle. Während St. eher einen kommunistischen Aufstand erwartete und sich schließlich aus Furcht vor Attentaten in seinem Heimatdorf Slavovica „verschanzte“, fanden sich die bürgerlichen Politiker, die Offiziersliga, die Mazedonier und Zar Boris III. zu einem Komplott zusammen. Am 9. Juni 1923 wurde die Agrarierregierung in Sofia durch einen Militärputsch gestürzt und eine bürgerliche Regierung unter Professor Aleksandŭr Cankov gebildet. Der Beseitigung des Agrarier-Regimes sahen die Kommunisten tatenlos zu, was heute als Fehler verurteilt wird. Der Widerstand der schlecht bewaffneten Orangegardisten wurde von der Armee und den Mazedoniertrupps in kürzester Zeit erstickt. St. selbst wurde, nachdem er hastig einige Getreue um sich geschart hatte, schließlich von seinen Verfolgern gefaßt und in Slavovica am 14. Juni 1923 unter schrecklichen Torturen ermordet.

Literatur

Gentizon, Paul: Stamboulisky et le peuple bulgare. In: La Revue de France 3 (1.10. 1923) Nr. 19.
Aleksandŭr Stambolijski. Ličnost i delo. 3 Bde. Sofija 1928/29.
Petkov, Nikola D.: Aleksandŭr Stambolijski. Ličnost i idei. Sofija 1930.
Genovski, Michail: A. Stambolijski. Život, idei, borbi 1900-1914. Sofija 1947.
Kožucharov, Kŭnju: Aleksandŭr Stambolijski. Biografičen očerk. Sofija 1968(2).
Stojanov, Ljudmil: Aleksandŭr Stambolijski. Romanizuvan život. Sofija 1977(3).

Verfasser

Hans-Joachim Hoppe (GND: 143931040)


GND: 118798405

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Empfohlene Zitierweise: Hans-Joachim Hoppe, Stambolijski, Aleksandŭr Stoimenov, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 164-166 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1679, abgerufen am: (Abrufdatum)

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