Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

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Dimitriev, Radko

Dimitriev, Radko (Rusko Dimitrov Ruskov), bulgarischer Offizier, * Gradec (Distrikt Sliven) 24.09.1859, † Pjatigorsk (?) 18.10. 1918.

Leben

Als junger Mann beteiligte sich D. an der nationalen Bewegung gegen die Türkenherrschaft und kämpfte im russisch-türkischen Krieg 1877/78. In Sofia absolvierte er die Kadettenschule. Seine weitere militärische Ausbildung erfolgte an der Militärakademie in St. Petersburg und später noch an der Nikolaev-Akademie des Generalstabs. Nach seiner Rückkehr nach Bulgarien wurde D. Stabschef beim Ostkorps der bulgarischen Armee. In der berühmten Schlacht bei Slivnica (Sieg der Bulgaren über die Serben) trat D. als Regimentskommandeur hervor. Nach dem serbisch-bulgarischen Krieg (November 1885) reifte bei ihm wie bei vielen anderen jungen und ehrgeizigen Offizieren der Gedanke an den Sturz des Fürsten Alexander (hierbei hatte der russische Militärattache in Sofia V. V. Sacharov seine Hände mit im Spiel). Durch Benachteiligung bei Ordensverleihungen und Beförderungen hatte sich der Fürst besonders unter den rumelischen Offizieren im bulgarischen Heer viele Unzufriedene geschaffen. Darüber hinaus verbreiteten die russophilen Bulgaren die Parole, „daß der Prinz für Bulgarien geopfert werden müsse“. Die mit dem serbisch-bulgarischen Krieg und der faktischen Vereinigung Bulgariens und Ostrumeliens noch vertiefte Feindseligkeit Rußlands erschien ihnen für das weitere Gedeihen des Fürstentums als eine gefährliche Belastung.
In der Person D.s trafen das karrieristische und das russophile Motiv zur Entthronung des Fürsten verstärkt zusammen: D., „der frühere Liebling der rumelischen Gouverneure“ (Hajek), haßte den Fürsten, weil er seine Aussicht auf eine glänzende Karriere in der rumelischen Miliz durch die Vereinigung Ostrumeliens mit dem Fürstentum Bulgarien zerstört sah. Und er „haßte den Fürsten als Deutschen, denn er selbst, als Absolvent russischer Militärschulen russophil, war Panslawist, träumte von einem großen slawischen Staatenbund, dem auch Bulgarien angehören sollte, und hoffte an der Spitze gewaltiger Heeresmassen den Germanen Niederlagen beizubringen“ (Hajek). Vor dieser Idee einer weltweiten Mission Rußlands und der slawischen Völker verloren die Ängste um Freiheit und Unabhängigkeit des „mikroskopisch kleinen Bulgarien“ ihre Bedeutung (Sakŭzov). Bei der Verwirklichung dieser Mission scheint sich D. eine gewichtige Rolle zugedacht zu haben. Wohl nicht nur wegen einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit nannten ihn seine Freunde scherzweise „Napoleonceto“ (kleiner Napoleon). Bei dem Offiziersputsch gegen Fürst Alexander am 21. August 1886 war D. einer der Hauptinitiatoren. Er war es auch, der die Abdankungsurkunde des Fürsten diktierte. Als der Putsch wegen fehlenden Rückhalts und an der Gegenbewegung Stambolovs scheiterte, mußte D. emigrieren. In einem späteren Artikel rechtfertigte D. den mißlungenen Alleingang der Offiziere mit den Überlegungen, daß ein Sturz Alexanders durch das Große Sŭbranie unmöglich gewesen wäre und ein Volksaufstand zu einer Konfrontation zwischen Volk und Heer mit u. U. unkontrollierbaren Entwicklungen geführt hätte.
Auch in der Emigration gab D. seine Umsturzpläne - jetzt gegen die Regentschaft und die Regierung Radoslavov gerichtet - nicht auf. Anfang 1887 gründeten bulgarische Emigranten mit D. und Major Petŭr Dimitrov Gruev an der Spitze in Rumänien ein „Revolutionäres Komitee“ zur Vorbereitung eines Militäraufstandes. Das erste Produkt ihres Wirkens war der nordbulgarische Militäraufstand in Silistra und Rustschuk (Ruse), der jedoch von regierungstreuen Truppen niedergeschlagen wurde. In Rußland wurde D. erneut in den Militärdienst aufgenommen. Er kämpfte als russischer Offizier im Kaukasus. Nach der Aussöhnung Bulgariens mit Rußland (1895) durfte D. in seine Heimat zurückkehren und wurde dort wieder in den Dienst der bulgarischen Armee aufgenommen (1898). Eine Zeitlang war D. - angeblich auf ausdrücklichen Wunsch Rußlands - Chef des bulgarischen Generalstabs (1903). Im ersten Balkankrieg (1912/13) befehligte er die vereinigte 3. und 1. Armee, die bei Lozengrad und Lüleburgaz einen hervorragenden Sieg über die Türken errang. Trotz seines Drängens auf Annahme des türkischen Waffenstillstandsangebots erhielt er den Befehl zum Sturm Çatalcas, der unter schweren Verlusten mit einem Mißerfolg der Bulgaren endete. - Im zweiten Balkankrieg war er wiederum Kommandeur der 3. Armee und dann als Nachfolger General Michail Savovs Generalstabschef der bulgarischen Streitkräfte. Mit der Ernennung des russophilen Generals hoffte Zar Ferdinand vergebens, Rußland zu entschiedenem Eingreifen zugunsten Bulgariens zu bewegen (es sollte Griechenland und Serbien zum Stopp der Kriegshandlungen veranlassen). Trotz der Teilerfolge an der Front gegen Serbien vermochte D. die bulgarische Niederlage nicht aufzuhalten. Im September 1913 wurde D. von Zar Ferdinand zum bulgarischen Gesandten in St. Petersburg (als Nachfolger Stefan Bobčevs) ernannt. Das deutschfreundliche Kabinett Radoslavov wollte durch die Berufung D.s unterstreichen, daß es zu allen Großmächten die bestmöglichen Beziehungen zu unterhalten bestrebt war und besonderen Wert darauf legte, sich die Gunst Rußlands nicht zu verscherzen.
Die bisherige Charakterisierung D.s als „blindes Werkzeug Rußlands“ schränkte die deutsche Gesandtschaft in Sofia in ihrem Bericht anläßlich seiner Berufung nach St. Petersburg mit Recht dahin ein, „daß die Enttäuschungen, die Bulgarien während der letzten Balkanereignisse an Rußland erlebte, auch ihm die Augen geöffnet haben und er sicherlich nicht mehr, wie einst, die vaterländischen Interessen den russischen Bestrebungen auf dem Balkan unterordnen werde“. Als jedoch die Absichten Zar Ferdinands und der Regierung Radoslavov, Bulgarien auf Seiten der Mittelmächte und damit gegen Rußland in den Ersten Weltkrieg zu verwickeln, immer deutlicher wurden, trat D. demonstrativ in die russische Armee ein. Daraufhin wurde er im August 1914 seines Postens als bulgarischer Gesandter enthoben. Während des Ersten Weltkrieges nahm er an den Operationen der russischen Armeen teil. Im September 1914 wurde er Nachfolger des Generals Nikolaj Vladimirovič Russki als Kommandeur der 3. russischen Armee. Später erhielt er den Befehl über die 12. Armee. Im Zusammenhang mit den Revolutionsereignissen in Rußland mußte er die Armee verlassen. Er entschloß sich sogar (nach Angaben der Bulgarischen Enzyklopädie), in die Rote Armee einzutreten. Als er zur Erholung im Kaukasus weilte, wurde er von der dortigen Sowjetregierung in Pjatigorsk als Geisel inhaftiert. Am 18. Oktober 1918 wurde er mit vielen russischen Offizieren, unter ihnen auch General Russki, von den Bolschewiki ermordet.
D. ist auch durch seine Erinnerungen an die Kriegsereignisse der Jahre 1877/78 und 1912 bekannt geworden: „Boevete i operaciite okolo Šipka“ (Sofia 1902) und „Treta armija v Balkanskata vojna“ (Sofia 1912).

Literatur

Sakŭzov, Janko: Bŭlgaritě v svojata istorija. Sofija 1918.
Helmreich, Ernst Christian: The Diplomacy of the Balkan Wars 1912-1913. Cambridge 1938.
Hajek, Alois: Bulgariens Befreiung und staatliche Entwicklung unter seinem ersten Fürsten. München, Berlin 1939.
Popov, V.: General Radko Dimitriev - zabeležitelen bŭlgarski pŭlkovodec. Biografični beležki. In: Voenno-ist. Sborn. 2 (1956) 82-106.
Jelavich, Charles: Tsarist Russia and Balkan Nationalism. Berkeley, Los Angeles 1958.
Martynenko, A[natolij] K[onstantinovič]: Russkobolgarskie otnošenija v 1894-1902 gg. Kiev 1967.
Istorija na srŭbsko-bŭlgarskata vojna 1885. Sofija 1971.

Verfasser

Hans-Joachim Hoppe (GND: 143931040)


GND: 1053537921

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Empfohlene Zitierweise: Hans-Joachim Hoppe, Dimitriev, Radko, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 400-402 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=732, abgerufen am: (Abrufdatum)

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