Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Enver Pascha
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Enver Pascha

Enver Pascha, osmanischer General und Staatsmann, * Istanbul 22.11.1881, † bei Bal’džuan in Tadschikistan 4.08.1922.

Leben

Ältester Sohn eines kleinen Beamten aus Bitola (Manastır), der erst durch seinen Sohn zum Pascha aufstieg und dessen Vorfahren gagausischer Herkunft sein sollen, absolvierte E. die Kriegsschule (Mekteb-i Harbiye) in Istanbul und verließ sie im Dezember 1902 mit dem Rang eines Hauptmanns im Generalstab. 1903-1908 wurde er bei der 3. Armee in Mazedonien vor allem gegen die Aufständischen eingesetzt und schloß sich hier dem geheimen Komitee für Einheit und Fortschritt (Osmanlı Ittihad ve Terakki Cemiyeti) an, das seine Zentrale in Saloniki hatte. Einer Untersuchung durch die Behörden in Istanbul entging er Ende Juni 1908 durch eine Flucht in die Berge, gefolgt von seinen Kameraden Ahmed Niyazi aus Resen (Mazedonien) und Eyyüb Sabri aus Ohrid. Sie lösten die jungtürkische Revolution vom 24. Juli 1908 aus, die Abdülhamid II. zur Wiedereinführung der Verfassung, Aufhebung der Zensur usw. zwang und Enver Bey über Nacht berühmt machte. 1909 Militärattache in Berlin, nahm er im gleichen Jahr an der Niederschlagung des konterrevolutionären Aufstandes vom 13. April (Otuzbir Mart vakası) in Istanbul teil. 1911-1912 kämpfte er mit Auszeichnung gegen die italienische Besetzung von Tripolitanien (Libyen) und war vorübergehend Mutasarrıf von Benghazi. Nach Istanbul zurückgekehrt, leitete er am 23. Januar 1913 den Überfall jungtürkischer Offiziere auf die Hohe Pforte (den Amtssitz des Ministerpräsidenten), der zwar mit Waffengewalt den Rücktritt von Großwesir Kâmil Pascha und den Tod von Kriegsminister Nazım Pascha erreichte und die Jungtürken bis 1918 an die Macht brachte, für die prekäre Lage des Osmanischen Reiches im ersten Balkankrieg jedoch nutzlos war. Die Türken mußten ganz Mazedonien und den größten Teil von Thrazien räumen und konnten lediglich unter Mitwirkung E.s während des zweiten Balkankrieges am 22. Juli 1913 Edirne zurückgewinnen.
E. stieg Anfang 1914 zum Kriegsminister und durch doppelte Beförderung zum Generalmajor auf und heiratete am 5. März Emine Naciye Sultan, eine Nichte des regierenden Monarchen Mehmed V. Reşad. „Enver Pascha - Gott strafe ihn! - hat Enver Bey umgebracht!“ äußerte sich der patriotische Literat Süleyman Nazif mit einem Wortspiel über diese Wandlung vom Revolutionshelden zu einem mit dem Herrscherhaus versippten Politiker. Im Sommer 1914 setzte sich E. in diplomatischen Verhandlungen für ein Bündnis mit dem Deutschen Reich ein und veranlaßte den Eintritt der Türkei in den Ersten Weltkrieg auf der Seite der Mittelmächte. Am 21. Oktober 1914 wurde er stellvertretender Oberbefehlshaber der türkischen Streitkräfte (unter dem nominellen Oberbefehl des Sultans), und bereits am 5. August hatte er eine Sonderorganisation (Teşkilât-ı Mahsusa) zur Vorbereitung von Aufständen in feindlichen Gebieten, u. a. in Mazedonien, gegründet. Sein einziges persönliches Kommando im Weltkrieg hatte 1914/15 die katastrophale Niederlage der 3. türkischen Armee durch die Russen im Osten bei Sarıkamış zur Folge. Der Zusammenbruch der Türkei führte am 14. Oktober 1918 zum Rücktritt des letzten jungtürkischen Kabinetts unter Talât Pascha und am 2. November zur Flucht von E., Talât und anderen prominenten Jungtürken auf ein deutsches Kriegsschiff im Bosporus und über Evpatorija im Dezember nach Berlin. Am 5. Juli 1919 wurden E., Talât und andere Jungtürken in Istanbul in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Von Berlin aus bemühte sich E. um eine Annäherung sowohl an die Sowjets, von denen er eine Förderung seiner panturanischen Pläne erhoffte, als auch an Mustafa Kemal (Atatürk). 1920 hielt er sich in Moskau auf und besuchte im September den Kongreß der Orientvölker in Baku; zugleich suchte er in verschiedener Weise Einfluß auf die Befreiungsbewegung in Anatolien zu gewinnen, doch der türkische Sieg am Sakarya im September 1921 nahm ihm dort endgültig alle Möglichkeiten. Im Oktober reiste er nach Buchara, wo er sich nunmehr im Namen des geflohenen Emirs und des (osmanischen) Kalifen gegen die Sowjets wandte und mit der lokalen Bewegung der Basmadži zusammentat. Nach wechselvollen und meist unglücklichen Kämpfen gegen die Rote Armee fiel er nach der Version seiner Anhänger bei einem Kavallerieangriff östlich Bal’džuan im heutigen Tadschikistan und wurde in Čakan begraben.
Neben seinem Vater erlangten noch zwei weitere nahe Verwandte durch seinen Einfluß hohe Stellungen. Sein Vetter Halil Pascha (1881-1957) war Befehlshaber der Irak-Gruppe zur Zeit der Kapitulation der in Kūt al-‘Amāra eingeschlossenen britischen Truppen (29.04.1916), sein Bruder Nuri Pascha (1889-1949) leitete die erwähnte Sonderorganisation und befehligte 1915-1918 mit dem Rang eines Generalmajors libysche Aufständische im Kampf gegen die Italiener.

Literatur

Gövsa, Ibrahim Alâettin: Türk meşhurları ansiklopedisi. Istanbul 1946.
Bayur, Yusuf Hikmet: Türk inkılâbı tarihi. 3 Bde. Ankara 1940/67.
Lewis, Bernard: The Emergence of Modern Turkey. London 1961.
Rustow, D. A.: Enwer Pasha. In: The Encyclopaedia of Islam. Bd 2. Leiden, London 1965, 698-702.
Togan, Zeki Velidi: Hâtırat. Istanbul 1969.
Ahmad, Feroz: The Young Turks. The Committee of Union and Progress in Turkish Politics, 1908- 1914. Oxford 1969.
Aydemir, Şevket Süreyya: Makedonya’dan Orta Asya’ya. Enver Paşa. 3 Bde. Istanbul 1970/72.


GND: 118935577

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Empfohlene Zitierweise: Hans-Jürgen Kornrumpf, Enver Pascha, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 1. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1974, S. 462-464 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=779, abgerufen am: (Abrufdatum)

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