Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Pašić, Nikola P.
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Pašić, Nikola P.

Pašić, Nikola P., serbischer Politiker, Ministerpräsident Serbiens 1891-1893, 1904/05, 1906-1908, 1909-1911, 1912-1918, Ministerpräsident Jugoslawiens 1920-1924, 1924-1926, * Zaječar 18.12.1845, † Belgrad 10.12.1926.

Leben

P., Sohn eines Bauern und Händlers, studierte an der Hochschule Belgrad, dann an der TH Zürich Bauwesen. Dort gehörte er zu den engsten Mitarbeitern des Svetozar Marković, der 1869 mit P. und anderen die Radikale Partei gründete. Nach der Rückkehr in die Heimat arbeitete P. als Redakteur in der ab 1875 von Marković in Kragujevac herausgegebenen Zeitung „Oslobodjenje' (Befreiung) und beteiligte sich daneben an der Vorbereitung des Aufstands in Bosnien und der Herzegowina 1875. Er bewarb sich erfolgreich um eine Dozentur für Geodäsie, doch ernannte ihn das Ministerium nicht. Im serbisch-türkischen Krieg 1876/77 diente er als Soldat. 1878 wurde er Abgeordneter von Zaječar und trat bald als führender Kopf der Radikalen Partei (Radikalna Stranka, ab 1881: Radikale Volkspartei, Narodna Radikalna Stranka) hervor, als der er, ab 1880 Fraktionsvorsitzender, Programm und Politik seiner Partei maßgeblich gestaltete. 1880/81 gab sich die Partei als erste in Serbien eine moderne Organisation (Programm, Statuten, demokratisch gewählte Organe, geregelte Mitgliedschaft, Mitgliedsbeiträge, Parteipresse, Fraktionszwang usw.) und berief P. zum Vorsitzenden des Hauptausschusses (Glavni odbor). P. entfernte sich von den Theorien Markovićs und entwickelte eine Konzeption, die die Wählerstimmen der Bauern einbrachte: den bürokratischen Zentralismus sollte ein an die serbischen Traditionen anknüpfendes, nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebautes System der Selbstverwaltung ersetzen. Als Milan Obrenović wegen des Wahlerfolges der Radikalen 1883 die Skupština sogleich nach ihrem Zusammentritt vertagen ließ und anschließend die von den Wehrpflichtigen auf bewahrten Gewehre zwecks Ersetzung durch modernere, der besseren Wartung wegen jedoch in Arsenalen aufzubewahrende Waffen einfordern ließ, befürchtete die Parteiführung einen Staatsstreich und sympathisierte mit dem in Ostserbien ausbrechenden Aufstand (Timočka buna), mit dessen Führern jedoch allein P. in direktem Kontakt stand. Um zu den Rebellen zu stoßen, reiste P. am 3. November 1883 über Semlin nach Bulgarien, entging so der Verhaftung der Parteiführung, wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt und agitierte jetzt von Bulgarien aus gegen Milan. Seinem außenpolitischen Programm einer Allianz der Balkanstaaten entsprechend bot er nach dem Staatsstreich in Ostrumelien (18./06.09.1885) dem König seine Unterstützung an, falls dieser die serbischen Kompensationsansprüche nicht in einem Krieg gegen Bulgarien, sondern gegen das Osmanische Reich in Mazedonien geltend machen wollte, wurde jedoch abgewiesen. Daraufhin rief P. die Serben auf, dem Regime ein Ende zu setzen. Indessen machte der Mißerfolg der Unruhen in Timok die Radikalen, die schwere Schlappe Serbiens gegen Bulgarien 1885 den König zu einem Kompromiß bereit: er begnadigte zunächst alle radikalen Politiker außer P. und willigte 1886 nach dem offenen Zerwürfnis mit seiner Gemahlin Natalija und dem Wahlsieg der Radikalen 1887 in die von allen Parteien geforderte Revision der Verfassung von 1869 ein. Trotz erheblicher Zugeständnisse (König als Chef der Exekutive, kein allgemeines Wahlrecht) zeigte die neue Verfassung von 1888 doch deutlich die Handschrift P.s und der Radikalen (Einkammersystem; Kompetenz des Parlaments für Gesetzgebung, Budget und Kontrolle der Exekutive; Selbstverwaltung; Schutz der Bürgerrechte; Abschaffung der Todesstrafe für politische Verbrechen; Unabhängigkeit der Justiz, Auflösung der Militärgerichte; Ministerverantwortlichkeit). 1889 kehrte P. aus dem Exil nach Serbien zurück und wurde zum Parteiführer und Skupštinapräsidenten gewählt. Am 11. Februar 1891 erstmals zum Ministerpräsidenten berufen, führte P. umfassende Reformen durch (Dezentralisierung der Verwaltung, Selbstverwaltung, Minderung des Wahlzensus, Sicherung der politischen Freiheiten, Ausweitung der Kontrolle der Exekutive, Nationalisierung des Salz- und Tabakmonopols sowie der Eisenbahnen), förderte durch Schutzzölle das einheimische Gewerbe und leitete die außenpolitische Annäherung Serbiens an Rußland ein. Nach dem Thronverzicht Milans trat P. wegen eines Konfliktes seiner Partei mit der Regentschaft zurück (August 1892), wurde, als sich König Alexander am 13. April 1893 für großjährig erklärte, zunächst als Gesandter nach St. Petersburg abgeschoben, nach der Suspension der Verfassung (1894) zurückberufen und 1898 wegen Majestätsbeleidigung zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Als der König das mißglückte Attentat auf Milan 1899 mißbrauchte, um eine große Zahl radikaler Politiker verhaften zu lassen, entging P. der Todesstrafe nur dank der Intervention Rußlands und Österreich-Ungarns. Nach der Trennung von seinem Vater Milan bahnte der König einen Ausgleich mit den Radikalen unter der Bedingung eines Kompromisses in der Verfassungsfrage und der Zusammenarbeit mit der Fortschrittspartei an. Der Flügel um P. (fuzionaši) ging darauf ein, während ein anderer Flügel die Unabhängige Radikale Partei (Samostalna Radikalna Stranka) konstituierte. Nach der Ermordung des Alexander Obrenović 1903 und der Berufung des Peter Karadjordjević auf den Thron trug P., im Kabinett Sava Grujić ab 20. Januar 1904 Außenminister, dann ab 1904 wieder Regierungschef, im parlamentarischen Wechselspiel mit den Unabhängigen Radikalen entscheidend zur Festigung des parlamentarischen Regierungssystems bei (Durchsetzung parlamentarischer Spielregeln in der Geschützbeschaffungskrise 1904, in der Frage der Neuwahlen 1906). Mit Erfolg konnte P. den Versuch Wiens, durch den Zollkrieg 1906-1911 Serbien zur Vergabe von Staatsaufträgen an Österreich-Ungarn zu zwingen, abwehren: Neue Märkte für Viehexporte wurden vor allem in Deutschland erschlossen, fleischverarbeitende Fabriken und andere Gewerbe gefördert, französische Anleihen und Investitionen ins Land gebracht. Gegenüber dem Machtanspruch der Großmächte strebte P. die Balkanallianz an, die 1912/13 gegen die Türkei bzw. Bulgarien erfolgreich war. In dem ab 1912 sich zuspitzenden Gegensatz der Offiziersclique um Oberst Dragutin Dimitrijević-Apis und der Opposition gegen P. überlagerten sich antiparlamentarische Bestrebungen des mit der politischen Führung rivalisierenden Militärs und demokratische Forderungen der Opposition nach Anwendung der Verfassung auch in den 1912/13 erworbenen neuen Gebieten. In der Deklaration von Niš (05.12.1914) formulierte P. die serbischen Kriegsziele (Verteidigung des Landes, Befreiung der unterjochten südslawischen Brüder) und knüpfte Kontakte zu den in Westeuropa agierenden südslawischen Gruppen. In der auch von Ante Trumbić Unterzeichneten Deklaration von Korfu (20.07.1917) über die Bildung eines Staates der Serben, Kroaten und Slowenen konnte P. wichtige Forderungen durchsetzen (Dynastie Karadjordjević). 1916/17 setzten sich der Regent Alexander und P. gegen Dimitrijević-Apis durch, den ein Gericht in Saloniki 1917 zum Tode verurteilte.
Nach Kriegsende gelang es P., der das neue Jugoslawien auf der Pariser Friedenskonferenz vertrat und am 12. Dezember 1920 zum Präsidenten der Konstituante gewählt wurde, gegen föderalistische Verfassungsentwürfe einen Staatsaufbau mit starkem Zentrum und einer Selbstverwaltung ohne Rücksicht auf die historischen Länder und nationalen Identitäten durchzusetzen und trotz der Abspaltung kleinerer Gruppen (z. B. der „Nezavisna Radikalna Stranka“ [Unabhängige Radikale Partei] unter Stojan Protić) die Partei zusammenzuhalten. (Stimmen/Mandate in %:  Wahlen zur Konstituante 1920: 17,7/21,7; Parlamentswahlen 1923: 25,82/34,62; 1925: 28,8/37). Das auf dem Fernbleiben der Kroatischen Bauernpartei (Hrvatska Seljačka Stranka) vom Parlament beruhende Stillhalteabkommen von 1923, das P. eine klare Mehrheit gegenüber der Restopposition gesichert hatte, scheiterte schon 1924. Nach einer schweren Krise (Vertagung des Parlaments, Verbot der Kroatischen Bauernpartei wegen ihres Beitritts zur kommunistisch gelenkten Grünen Internationale, Einmischung Alexanders in die Politik) brachte P. zwar am 14. Juli 1925 eine Koalition mit der Bauernpartei zustande, mußte aber wegen Korruptionsaffären, in die auch sein Sohn Radomir P. verwickelt war, am 4. April 1926 zurücktreten.

Literatur

Šijački, Dušan: Gradja za pedesetogodišnju istoriju Narodne radikalne stranke i političku istoriju Srbije. 4 Bde. Beograd 1924/27.
Sforza, Carlo: Pachitch et l’union des Yougoslaves. Paris 1938.
Popovič, Milivoje: Borba za parlamentarni režim u Srbiji. Beograd 1939.
Mitrovič, Živan: Srpske političke stranke. Beograd 1939.
Prodanović, Jaša: Istorija političkih stranaka i struja u Srbiji. Beograd 1947.
Jankovič, Dragoslav: O političkim strankama u Srbiji XIX veka. Beograd 1951.
Jelavich, Charles: Nikola S. Pašić: Greater Serbia or Jugoslavia? In: J. Central Europ. Affairs 11 (1951/52) 133-152.
Vucinich, Wayne S.: Serbia between East and West: The Events of 1903-1908. Stanford/Calif., London 1954.
Čubrilović, Vasa: Istorija političke misli u Srbiji XIX veka. Beograd 1958.
Šepić, Dragovan: Italija, zaveznici i jugoslavensko pitanje 1914-1918. Zagreb 1970 (mit Bibliographic).
Protić, Milan St.: Pašić i Protić pre 1914. Skice likova. In: Istorijski glasnik (1971) 1, 81-118.
Dragnich, Alex N.: Serbia, Nikola Pašić and Yugoslavia. New Brunswick, New Jersey 1974.
Critchley, W.: Political Restrictions on Leadership Response to Political Instability: Yugoslavia, 1921-1929. Ann Arbor 1975.

Verfasser

Gunnar Hering (GND: 1078119694)


GND: 118789783

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Empfohlene Zitierweise: Gunnar Hering, Pašić, Nikola P., in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 3. Hgg. Mathias Bernath / Felix von Schroeder. München 1979, S. 402-405 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1500, abgerufen am: (Abrufdatum)

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