Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Trikupis, Charilaos
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Trikupis, Charilaos

Trikupis, Charilaos, griechischer Politiker, Navplion 23. (11.) 07. 1832, † Cannes 11.04. (30.03.) 1896, Sohn des Politkers und Historiographen Spiridon T. und der Ekaterini T., der Schwester des Alexandros Mavrokordatos.

Leben

Nach dem Besuch des Gymnasiums in Athen studierte T. Rechtswissenschaft an den Universitäten Athen und Paris; wegen seiner ausgezeichneten Leistungen bestellte ihn die Pariser Anwaltskammer zu einem ihrer Sekretäre. 1856-1862 war er Sekretär der griechischen Vertretung in London, an der sein Vater Spiridon T. als Gesandter wirkte. Das Studium des britischen Regierungssystems, in dem auch sein Vater und dessen politische Anhänger das Vorbild der künftigen Entwicklung Griechenlands sahen, prägte sein politisches Denken tief, nach englischer Lebensart formte sich sein allgemeines Gebaren. Gute gesellschaftliche Kontakte in London und sein energischer, aber geschickter Verhandlungsstil ermöglichten ihm, 1863/64 günstigere als die im Londoner Protokoll vom 1. August (20. VII.) 1863 vorgesehenen Bedingungen für die Abtretung der Ionischen Inseln an Griechenland auszuhandeln (Londoner Vertrag v. 29. [17.] III. 1864). In die 2. Verfassunggebende Nationalversammlung wurde er 1862 als unabhängiger Abgeordneter der griechischen Kolonie von Manchester gewählt, ab 1865 vertrat er Mesolongi, die Heimat seiner Familie, im Parlament, in dem er sich zunächst Alexandros Kumunduros anschloß. In dessen Kabinett (30. [18.] XII. 1866-28. [16.] XII. 1867) entwickelte er als Außenminister die Grundlagen seines außenpolitischen Programms: Das Ziel der Vereinigung aller noch unter osmanischer Herrschaft lebenden Griechen in einem Nationalstaat lasse sich nur erreichen, wenn sich Griechenland in Anbetracht seiner exponierten Küsten der britischen Unterstützung versichere, die Rüstungen systematisch und in großem Stil vorantreibe und leichtfertige Rebellionen der Connationalen ohne seriöse Vorbereitung einer koordinierten Aktion verhindere; Frieden oder Krieg, Freundschaft mit dem Sultansreich oder ein Balkanbund zur Befreiung der Irredenta „sind keine eigenständigen Prinzipien, sondern Ergebnisse der Einwirkung der Umstände auf die einheitliche nationale Idee des Griechentums“ (Artikel T.s in der Zeitung Ora, 2.07.1876 st. a.). 1867 strebte er auf dem Höhepunkt der Kretakrise ein Offensivbündnis mit Serbien an, das am 26. (14.) August in Voeslau unterzeichnet wurde und die territorialen Minimalziele beider Staaten (Thessalien, Epirus an Griechenland; Bosnien, Herzegowina an Serbien; keine Vereinbarungen über Mazedonien) festlegte, jedoch nie wirksam wurde. Den politischen Praktiken König Georgs I., der vom Parlament gestützte Kabinette wegen politischer Meinungsverschiedenheiten zum Rücktritt zwang und es Splittergruppen ermöglichte, kurzlebige Regierungen zu bilden und Neuwahlen mit Ämterpatronage und Wahlgeschenken zu beeinflussen, trat T. in seinem berühmten Zeitungsartikel „Wer ist schuld?“ (Tis ptei? In: I Keri 29.06.1874 st. a., ergänzender Artikel „Vergangenheit und Gegenwart“, Parelthon ke enestos, ebenda am 9.07.1874 st. a.) mit einer schneidenden Analyse der politischen Instabilität des Landes entgegen, der im In- und Ausland großes Aufsehen erregte und zur vorübergehenden Verhaftung des Autors führte. Nachdem die aufgebrachte Öffentlichkeit dem König keinen anderen Ausweg gelassen hatte, als das durch Willkür und Staatsstreichaktionen diskreditierte Regime des Dimitrios Vulgaris fallenzulassen, ergriff Georg die Flucht nach vorn und beauftragte T. am 9. Mai (27. IV.) 1875 mit der Bildung eines Kabinetts, das freie Wahlen durchführte und den König in der von T. aufgesetzten Thronrede zusichern ließ, daß er das „erklärte (dedilomeni) Vertrauen“ der Kammermehrheit künftig als „unabdingbare Voraussetzung“ für die Berufung eines Ministerpräsidenten akzeptiere - das parlamentarische Regierungssystem ist in dieser großen Wende durchgesetzt worden. Da die aus der Bergpartei des Kumunduros hervorgegangene „5. Partei“ (Verfassungspartei) des T. in den Wahlen keine Mehrheit errang, trat T. zurück und übernahm widerstrebend in der am 7. Juni (26.05.) 1877 gebildeten Allparteienregierung das Außenministerium, um den Neutralitätskurs während der Orientkrise solange fortzusetzen, wie Rußland die Erfüllung griechischer Aspirationen nicht eindeutig garantiere und England einen Kriegseintritt Griechenlands mißbillige. Auf zwei kurzlebige Kabinette unter T., in denen dieser auch das Außen- und das Finanzministerium übernahm (2.-7. XI. [21,-26.10.] 1878; 22. [10.] III.-22. [10.] X. 1880) und 1880 die ersten Reformen (allgemeine Wehrpflicht und Reorganisation des Heeres, Abschaffung des Zehnten) durchsetzte, folgte erst nach dem Wahlsieg von 1881 eine dreijährige Periode, in der T. als Ministerpräsident vom 10. März (26. II.) 1882 bis zur Wahlniederlage am 19. (7.) April 1885 sein Programm einer durchgreifenden Modernisierung Griechenlands nach westeuropäischem Vorbild in Angriff nehmen (T. bis 11.04.1883 auch Außen-, bis 19.05.1883 Innen-, ab 15.05.1883 Finanz-, ab 31.03.1882 Kriegsminister) und in den nächsten Phasen seiner Regierungstätigkeit (21. [9.] V. 1886-5. XI. [24.10.] 1890, 22. [10.] VI. 1892-9.05. [27. IV.] 1893; 10. XI. [29.10.] 1893-24. [12.] I. 1895; in diesen Kabinetten T. auch vom 17. [5.] VII.-14. [12.] XI. 1888 Innen- und Finanzminister, vom 21. [9.] V. 1886-11. VIII. [30. VII.] 1890 Kriegsminister, in der Regierung 1893 bis 1895 auch Finanzminister) großenteils verwirklichen konnte: Der liberale Rechtsstaat wurde durch die Reorganisation des Justizwesens und der Verwaltung, die Einführung des Qualifikationsprinzips als Voraussetzung für die Beamtenlaufbahn sowie die Ausweitung der Gemeindeselbstverwaltung, durch strikte Wahrung der Legalität und einwandfreie Wahlen auf feste Grundlagen gestellt; Änderungen des Wahlsystems sollte den Einfluß der Ortsgrößen auf Parteien und Wähler unterbinden und die Herausbildung des Zweiparteiensystems mit klaren Parlamentsmehrheiten erleichtern. Bleibende Verdienste erwarb sich T. durch den Ausbau des Straßennetzes (1882-1890: 3862 km Neubauten) und der Errichtung von 1300 km Eisenbahnlinien 1882-1890, durch die Landwirtschaft, Handel und Gewerbe gefördert und der soziale und kulturelle Wandel auf dem flachen Lande beschleunigt wurden. Der Preis für diese Politik war die äußerste .Anspannung der finanziellen Kräfte zur Verzinsung und Tilgung hoher Ausländsanleihen, die infolge des unvorhergesehenen Zuwachses an Schulden durch unproduktive Ausgaben seines Gegners Theodoros Dilijannis (1885/86), durch die Rosinenkrise 1890ff., durch die hohen Militärausgaben sowie durch exogene Faktoren trotz Steuererhöhung und erheblicher Einnahmesteigerungen dank der Straffung der Finanzverwaltung zur Verkündung der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands durch T. am 13. (1.) Dezember 1893 führte. Außenpolitisch erstrebte T. nicht kleinere Gelegenheitserwerbungen sondern die Realisierung der Großen Idee, d. h. der Vereinigung aller Griechen in einem Nationalstaat nach der letzten großen Auseinandersetzung mit dem Osmanenreich in Europa, die er für die 1890er Jahre voraussah, und trieb daher Rüstungen des Landheeres und die Vergrößerung der Flotte zügig voran; in dem Maße, wie Serbien und vor allem Bulgarien rivalisierende Ansprüche insbesondere auf Mazedonien erhoben, stellte T. seine Taktik auf vorübergehend friedliche Beziehungen zu Istanbul ein, die jedoch durch die Dauerkrise um Kreta, den griechisch- bulgarischen Kirchenstreit und die Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien immer wieder getrübt wurden. Die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Aktion der christlichen Balkanstaaten beurteilte er wegen der bulgarischen Absichten zunehmend pessimistisch. Nicht allein der wachsende Steuerdruck, sondern die komplexen Spannungen infolge des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandels, die sein Gegenspieler Dilijannis z.T. demagogisch hochspielte, sowie die außenpolitischen Konstellationen riefen extreme Schwankungen des Wählerverhaltens hervor: So erhielt die Partei des T. in den Wahlen von 1885 40 von 245 Mandaten, 1887 dagegen 90 von 150, 1890 nur 15 von 150, 1892 jedoch 160 von 207. Wegen einer Meinungsverschiedenheit mit Georg I. über das rechtlich umstrittene Eingreifen des Thronfolgers Konstantin (I.) bei einer Demonstration auf dem Aresfeld am 20. (8.) Januar 1895 demissionierte T. zwei Tage später und zog sich nach der Wahlniederlage am 28. (16.) April 1895 aus der Politik zurück.

Literatur

Peri Charilau Trikupi analekta ek dimosievmaton. 17 Bde. Athen 1907 ff.
Purnaras, Dimitris: Charilaos Trikupis. I zoi ke to ergon tu. 2 Bde. Athen 1950, 1954(2), 1960(3).
Petropulos, Konstantinos: Charilaos Trikupis. Athen 1966.
Ders.: Mesolongitikes ethnikes doxes. I pente Mesolongites prothipurgi. Athen 1971.
Levandis, John Alexander: The Greek Foreign Debt and the Great Powers 1821-1898. New York 1944.
Laskaris, Stamatios Theodoru: Charilaos Trikupis. Ke i enosis tis Eptanisu. Athen 1930.

Verfasser

Gunnar Hering (GND: 1078119694)


GND: 119152843

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Empfohlene Zitierweise: Gunnar Hering, Trikupis, Charilaos, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 346-348 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1801, abgerufen am: (Abrufdatum)

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