Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Wekerle, Sándor
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Wekerle, Sándor

Wekerle, Sándor (Alexander), ungarischer Politiker und Ministerpräsident, * Mór (Komitat Fejér) 14.11.1848, † Budapest 26.08.1921.

Leben

Nach Beendigung seines Studiums der Rechts- und Staatswissenschaften an der Buda- pester Universität, an der er sich später auch habilitierte, trat W. 1870 in den Dienst des ungarischen Finanzministeriums und übernahm 1878 in diesem die Leitung der Präsidialabteilung. Nach seiner 1882 und 1884 erfolgten Ernennung zum Sektions- und Ministerialrat, 1886 zum Staatssekretär, stieg W. in seiner Laufbahn zu einem der führenden Finanzexperten Ungarns nach 1867 auf. 1887-1896, 1906-1910, 1917-1918 und 1920-1921 gehörte W. dem ungarischen Parlament als Abgeordneter an, vom 8. April 1889 bis zum 14. Januar 1895 hatte er in mehreren Kabinetten ununterbrochen das Amt des Finanzministers inne. Unter seinem bestimmenden Einfluß wurde die Einführung der Zucker-, Alkohol- und Umsatzsteuer, der staatlichen Tabakregie und die Ablösung der Regalien vollzogen sowie das Gesetz zur Konvertibilität der Staatsschulden in der Höhe von 1 Milliarde und 62 Milk Kronen zu 4% vorbereitet. Im Zuge der Auseinandersetzungen um das kirchenpolitische Reformprogramm der Liberalen, das W. bereits als Minister entschieden unterstützt hatte, wurde er nach dem Rücktritt des Grafen Gyula Szapáry am 17. November 1892 zum ersten und einzigen bürgerlichen Ministerpräsidenten Ungarns im Zeitalter des Dualismus ernannt. Als solcher verwirklichte W. trotz großer Schwierigkeiten mit dem Magnatenhaus und mit der Krone, die seinen vorübergehenden Rücktritt (2.-9.06.1894) nach sich zogen, den Hauptteil der liberalen Religionsgesetzgebung: die Gesetze über die staatliche Matrikelführung, die obligatorische Zivilehe und die Religionszugehörigkeit der Kinder. Die in seinem Kabinett vorbereiteten Vorlagen über die Freiheit der Religionsausübung und über die Gleichberechtigung der jüdischen Religion sind erst Ende 1895 nach seinem Rücktritt vom Parlament und von der Krone angenommen worden. Damit war in Ungarn die staatskirchliche Stellung der katholischen Kirche beseitigt und eine weitgehende Trennung von Staat und Kirche erreicht. Finanzpolitisch vollzog W. in seinem ersten Kabinett den Übergang zur Goldwährung, die Neuorganisation der Finanzverwaltung und die Ordnung des Staatshaushaltes, der von ihm erstmals seit 1867 ausgeglichen wurde.
In diese Regierungszeit fallen auch die ersten Ansätze zu einer Sozialpolitik durch gesetzliche Einführung der obligatorischen Krankenversicherung und der Sonntagsruhe. Nach seiner Demission leitete W. als Vorsitzender den soeben reformierten Verwaltungsgerichtshof von 1896 bis 1906. Nach der schweren innenpolitischen Krise der Jahre 1905/06 betraute Franz Joseph I. am 8. April 1906 W. als treuen Verfechter des Dualismus mit der Führung der neuen Koalitionsregierung, die ihr dem Monarchen gegenüber gemachtes Zugeständnis einer Durchführung der Wahlreform nicht einhielt, wohl aber die Forderung nach einer nationalen ungarischen Armee aufgab. Die Politik des zweiten Kabinetts W., in dem dieser wiederum auch das Finanzministerium leitete, kennzeichnet eine starke Förderung des industriellen Unternehmertums und des Großkapitals, eine Verschärfung des Nationalitätenkampfes (Schulgesetz des Grafen Albert Apponyi 1908) und des Vorgehens der Exekutive gegen eine Demokratisierung der ungarischen Innenpolitik. Infolge der schwachen Haltung W.s gegenüber den nationalistischen Forderungen aus dem eigenen Lager, nach den Ausgleichsverhandlungen 1907 zuletzt auch in der Frage der Neuordnung der Österreichisch-Ungarischen Bank, verlor seine Regierung 1909 immer mehr ihrer Anhänger und mußte schließlich am 17. Januar 1910 zurücktreten. W. zog sich zeitweise vom politischen Leben zurück und setzte seine fachlichen Studien fort, als deren Frucht insgesamt drei größere Werke erschienen: ,,A kereskedelem iparfejlesztő hatása“ (Der Einfluß des Handels auf die Industrieförderung, 1904), ,,Die passive Handelsbilanz“ (1913) und ,,A háború gazdasági következményei“ (Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges, 1915). Nach dem Scheitern der ersten Regierung des neuen König Karls IV· unter der Leitung des Grafen Moritz Esterházy ernannte der König am 17. September 1917 W. zum ungarischen Ministerpräsidenten, nicht zuletzt um mit dem parteilich nicht gebundenen W. eine Rückkehr des Grafen István Tisza zur Macht zu verhindern. W. suchte wiederum durch eine Politik der scheinbaren Kompromisse, der halbherzigen Ankündigung von Reformen (Wahlrechtsreform), der sodann Unterdrückungsmaßnahmen zu folgen pflegten, die schwierige innenpolitische Lage zu meistern, hat aber indirekt durch sein unfruchtbares Lavieren zwischen den Lagern wesentlich zur Entstehung der revolutionären Lage im Jahre 1918 beigetragen. Außenpolitisch trat W. für eine Fortsetzung des Krieges ein, seine für Ungarn erhobenen territorialen Forderungen blieben ein großes Hindernis für die Friedensbemühungen Kaiser Karls. Auch widersetzte er sich strikt allen Versuchen einer Reichsreform. Das Völkermanifest des Monarchen vom 16. Oktober 1918, das durch seine Rücksichtnahme auf ein Weiterbestehen der Integrität des ungarischen Staates, wie sie W. im Kronrat vom 15. Oktober 1918 zur Bedingung seiner Zustimmung erhob, bereits von vornherein entscheidend an Gewicht verloren hatte, beantwortete W. am selben Tag noch mit der Aufkündigung des österreichisch-ungarischen Reichsverbandes und der Proklamation der Personalunion und gab damit ein weithin hörbares Signal für eine allgemeine Auflösung sowohl der Gesamtmonarchie wie auch des ungarischen Staates. Mit dem Rücktritt seines Kabinetts am 28. Oktober 1918, in dem er auch bis zum 11. Februar 1918 das Finanzministerium und vom 8. bis 28. Oktober 1918 das Innenministerium geleitet hatte, ging die dualistische Epoche in der Geschichte Ungarns faktisch zu Ende. Nach der Rätediktatur, in der er als Geisel in Haft gehalten wurde, spielte W. trotz seiner Ernennung zum Vorsitzenden des Kultur- sowie des Finanzrates in den Jahren 1920 und 1921 keine nennenswerte politische Rolle mehr. N och im J ahre 1918 war der erste Band seiner,, Reden“ (Beszédei) in Budapest erschienen.

Literatur

Matlekovits, Sándor: Wekerle Sándor emlékezete. Budapest 1922.
Pethő, Sándor: Világostól Trianonig. Budapest 1925.
Szontagh, Jenö: Wekerle. In: Emlékezések I. Ferenc József korából. Budapest 1934.
Gratz, Gusztav: A dualizmus kora. 2 Bde. Budapest 1934.
Balás, Károly: Ünnepi beszéd Wekerle Sándor emlékére. Budapest 1943.
Islamov, Tofik M.: Političeskaja bor’ba v Vengrii nakanune pervoj mirovoj vojny. 1906-1914. Moskva 1972.
Horváth, Zoltán: Die Jahrhundertwende in Ungarn. Geschichte der zweiten Reformgeneration. Neuwied am Rhein 1966, 1974(2).
Galántai, József: Magyarország az elsö világháborúban 1914-1918. Budapest 1974.

Verfasser

Gerhard Seewann (GND: 1069961280)

GND: 119128691

Weiterführende Information (Deutsche Biographie): https://www.deutsche-biographie.de/pnd119128691.html


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Empfohlene Zitierweise: Gerhard Seewann, Wekerle, Sándor, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 455-457 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1871, abgerufen am: (Abrufdatum)

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