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Eötvös, József (Joseph) Freiherr von, ungarischer Reformpolitiker und Schriftsteller, * Ofen 3.09.1813, † Pest 2.02.1871.
Leben
E. entstammte einer konservativen, kaisertreuen Hochadelsfamilie, doch bekannte er sich schon früh zur ungarischen Reformbewegung. Seine literarische Tätigkeit diente ihm zur Formulierung und Verbreitung seiner Reformideen. Sein erster Roman, „Der Karthäuser“ (1842), behandelt das bekannte romantische Problem eines jungen Idealisten, der in der Welt nur Enttäuschung findet. E. untersuchte hier die Beweggründe, die seine Entscheidung zur aktiven Reformpolitik als Lebenszweck bestimmten und kam zu der Überzeugung, daß der einzelne verpflichtet sei, die soziale Ungerechtigkeit durch persönliche Mitwirkung zu beseitigen. Diese Überzeugung könne aber seiner Meinung nach nur verwirklicht werden, wenn sie auf dem Gebote der gegenseitigen menschlichen Sympathie beruht, und nicht - wie im „Karthäuser“ geschildert - auf der Hoffnung nach Anerkennung, Reichtum oder politischem Einfluß.
Im Vormärz entfaltete E. eine vielseitige Tätigkeit als Reformpublizist, Journalist und Verfechter liberaler Ideen an der ungarischen Oberen Tafel. In den Jahren 1843 bis 1846 entwickelte er mit seinem Mitarbeiterkreis (László Szalay, Ágoston Trefort, Móric Lukács, Antal Csengery, Imre Madách) ein systematisches Reformprogramm, das dazu bestimmt war, in Ungarn eine liberale politische und soziale Ordnung aufzubauen. Obwohl E. mit den beiden großen Führern der ungarischen Reformbewegung Graf István Széchenyi und Lajos Kossuth vieles gemeinsam hatte, wurde sein zentralistischer Reformplan von diesen entschieden abgelehnt. E. und seine Freunde erkannten, daß eine liberale Reform nur durch eine radikale Änderung der vom konservativen Adel beherrschten Komitatsregierung möglich war. Die legislative Gewalt sollte in einem repräsentativen, vom Volk gewählten Parlament konzentriert werden und eine nationale Regierung sollte nur dem Parlament verantwortlich sein. Dazu müßte der Adel seine Privilegien aufgeben und die rechtliche wie soziale Gleichstellung aller Bevölkerungsschichten anerkennen. Es war hauptsächlich E.s Verdienst, die Einzelheiten dieses Programms in Artikeln, politischen Studien und Reden entwickelt und die ungarische öffentliche Meinung von der Notwendigkeit der Reform überzeugt zu haben. Eine systematische Darstellung dieser Konzeption veröffentlichte er in seiner Broschüre „Reform“, die zugleich in ungarischer und deutscher Sprache erschienen ist (Leipzig 1846). Einen viel größeren Einfluß erzielte E. mit zwei Gesellschaftsromanen: Im „Dorfnotar“ (1845) wurde die Ungerechtigkeit des Komitatssystems geschildert und der Idealismus eines ehrlichen, frei denkenden Menschen und eines unschuldigen Bauern verherrlicht. Diese Schilderung machte E. über Ungarn hinaus bekannt als Verfechter der sozialen Reform, machte ihn aber zugleich auch der Sympathie des konservativen ungarischen Adels verlustig und isolierte ihn politisch. In seinem Roman „Ungarn im Jahre 1514“ (Pest 1847) behandelte E. den ungarischen Bauernaufstand von 1514 und zeichnete die Konsequenzen einer Politik auf, die die Menschenrechte und die soziale Gerechtigkeit verneint.
Die Ereignisse des Revolutionsjahres 1848 ließen in mancher Hinsicht die Reformpläne der Zentralisten Wirklichkeit werden, doch sie brachten auch zwei neue Probleme zum Vorschein, an denen ihr Reformidealismus scheiterte. Es waren die Nationalitätenfrage und die modernisierte Verfassung des Habsburgerreiches. Als ungarischer Unterrichtsminister hatte E. bis zu seinem Rücktritt im September 1848 - als er mit seiner Familie nach München ging, um mit den Ereignissen weder auf der einen noch an der anderen Seite etwas zu tun haben zu müssen - gute Gelegenheit, die Problematik dieser beiden großen Fragen zu studieren. Die antimonarchische Politik Kossuths und die Errichtung des Neo-Absolutismus in Österreich und Frankreich führten ihn zu Lösungsvorstellungen, die er in seinem staatswissenschaftlichen Werk „Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat“ (Wien, Leipzig 1851/54) darzulegen versuchte. Es ging ihm um die Frage, wie der moderne Staat organisiert werden sollte, damit politische und nationale Rechte respektiert würden. In diesem Werk und in zwei Spezialstudien über die Probleme des österreichischen Staates (Über die Gleichberechtigung der Nationalitäten in Österreich, Pest 1850; Die Garantien der Macht und Einheit Österreichs, Leipzig 1859) bezeichnete E. den revolutionären Nationalismus als eine große Gefahr für die freiheitliche Tradition und empfahl, von Alexis de Tocqueville beeinflußt, eine dezentralisiert-föderalistische Organisation des Staates, in dem Nationalitäten, Munizipien, Kirchen, Ländern und jeder Gemeinschaft eine weitgehende Autonomie gesichert werden sollte.
Diese Ideen bestimmten das spätere politische Wirken E.s. Er unterstützte Ferenc Deáks Politik hinsichtlich des österreichisch-ungarischen Ausgleichs und betonte die Notwendigkeit der Respektierung der Rechte aller Nationalitäten. Als Unterrichtsminister von 1867 bis 1871 setzte er das Gesetz über die Schulpflicht durch, in dem den Konfessionen, Nationalitäten und Minderheiten Autonomierechte gesichert wurden, und entwarf die wesentlichen Bestimmungen für die Sprachenrechte der Minderheiten im ungarischen Nationalitätengesetz. Gleich nach seinem Amtsantritt ließ er vom Parlament das Gesetz über die Gleichberechtigung der Juden verabschieden. Den serbisch-orthodoxen, rumänisch-orthodoxen und jüdischen Kirchen sicherte er eine weitgehende Kultur- und Korporationsautonomie zu, damit sich diese nationalen und religiösen Gemeinschaften frei entwickeln konnten, und verfaßte originelle Pläne zur Reform des Mittelschul- und Universitätsunterrichts, die nur teilweise verwirklicht wurden.
Literatur
Ferenczi, Zoltán: Báró Eötvös József. Budapest 1903.
Concha, Győző: Eötvös és Montalambert barátsága. Budapest 1918.
Farkas, Julius: Der ungarische Vormärz. Berlin 1943.
Antall, József: Eötvös József Politikai Hetilapja és a kiegyezés előkészítése. In: Századok 99 (1965) 1099-1129.
Bödy, Paul: Baron Joseph Eötvös and his Critique of Nationalism in the Habsburg Monarchy, 1848-1854. In: The Historian 28 (1965) 1, 19-47.
Weber, Johann: Eötvös und die ungarische Nationalitätenfrage. München 1966.
Sőtér, István: Eötvös József. Budapest 1967 (mit Bibliographie).
Fenyő, István: Eötvös József kiadatlan írásai. Budapest 1971.
Bödy, Paul: Joseph Eötvös and the Modernization of Hungary, 1840-1870. Philadelphia 1972 (mit Bibliographie).
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