Fallmerayer, Jacob Philipp, österreichischer Historiker, * Tschötsch (auf dem Baumgartnerhof in Pairdorf, bei Brixen) 10.12.1790, † München 25./26.04.1861, Sohn eines armen Kleinbauern und Tagelöhners.
Leben
F. wurde 1803 Zögling im Cassianeum in Brixen, einem Chorknaben-Institut, und besuchte die Domschule, wo er eine vorzügliche humanistische Bildung erhielt. Als Lehrer beeinflußten ihn vor allem die Priester Valentin Forer (Geschichts- und Griechischlehrer) und Karl Anselm Prugger von Pruggheim (Direktor, als Freigeist geltend). 1809 begann F. mit dem Studium der Theologie in Salzburg, beschäftigte sich aber vor allem mit Geschichte und semitischen Sprachen. Bald gab er seine Absicht auf die geistige Laufbahn auf, doch schlug sein Versuch, auf die orientalische Akademie in Wien zu kommen, um Diplomat zu werden, fehl. 1812 ging er somit nach Landshut, um Jurisprudenz zu studieren; aber auch hier widmete er sich mehr den historischen Fächern und hörte Vorlesungen des Neuhumanisten Friedrich Ast. Im folgenden Jahr wurde F. Soldat. Nachdem er 1818 seinen Abschied als Unterleutnant genommen hatte, wurde er Gymnasialprofessor in Augsburg. 1821 ging er ans Gymnasium nach Landshut; 1826 trat er eine Professur für Universalgeschichte am Lyzeum Landshut an. 1827 errang F. mit der Veröffentlichung seiner „Geschichte des Kaisertums von Trapezunt“ - der Ausarbeitung einer 1824 preisgekrönten Schrift auf eine Preisfrage der königlich-dänischen wissenschaftlichen Gesellschaft in Kopenhagen - wissenschaftliches Ansehen (München 1827, Neudruck Hildesheim 1964).
1831-1834 unternahm F. als Begleiter des als „Sieger von Kulm“ berühmten russischen Generals Graf Aleksandr Ivanovič Ostermann-Tolstoj eine Orientreise (nach Ägypten, Nubien, Palästina, Syrien, Istanbul, Griechenland), bei welcher Gelegenheit er seine wissenschaftlichen Kenntnisse vertiefen konnte. Nach seiner Heimkehr wurde er in Landshut zwangspensioniert, die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München würdigte aber seine Verdienste und wählte ihn zu ihrem ordentlichen Mitglied. 1840 trat F. seine zweite Orientreise an: die Donau abwärts, durch das Schwarze Meer reiste er nach Trapezunt, Istanbul, Berg Athos, Mazedonien, Thessalien und Griechenland. 1842 wieder in München, stand er für einige Jahre im Mittelpunkt des geistigen Lebens der bayerischen Hauptstadt. Von Fedor Tjutčev - Diplomat an der russischen Gesandtschaft in München und größter russischer Lyriker nebst Puškin - wurde er zu dieser Zeit ohne Erfolg umworben, als Propagandist die Sache Rußlands zu unterstützen.
1844 verkehrte F. im Haus Friedrich Wilhelm Schellings in Berlin, folgte dann einer Einladung des bayerischen Kronprinzen Maximilian nach Schloß Hohenschwangau, der Gespräche über politische Grundsatzfragen mit ihm führen wollte. 1845 erschienen in Stuttgart seine „Fragmente aus dem Orient“; sie sicherten F.s literarische Geltung. 1847 war das Jahr des Aufbruchs zu einer dritten Orientreise: F. besuchte Athen, Istanbul, Trapezunt, Palästina, Syrien, Kleinasien, wobei er von Sultan Abdülmecid I. empfangen und ausgezeichnet wurde.
1848 kehrte F. auf die Nachricht, daß er Nachfolger von Joseph Görres an der Universität München geworden sei, nach Deutschland zurück. Ehe er seine Antrittsvorlesung halten konnte, wurde er jedoch im Frühjahr 1848 von den Münchner Vororten zum Abgeordneten für die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er stand nun auf der „Sonnenhöhe seines Lebens“ (Ignaz von Döllinger). In der Paulskirche stimmte er zusammen mit den entschieden liberalen Gruppen des „Württembergerhofes“ und der „Westendhallfraktion“ ab, blieb aber in enger brieflicher Verbindung mit König Maximilian II. Er selbst sah seinen Versuch in praktischer Politik als gescheitert an, und flüchtete nach der Sprengung des Stuttgarter Rumpfparlaments in die Schweiz. Als Universitätsprofessor wurde er daraufhin zwangspensioniert und sogar steckbrieflich verfolgt. 1850 kehrte F. nach München zurück. Er stieß 1851 anläßlich des „Ringseis-Vorfalls“ heftig mit seinen ultramontanen Gegnern zusammen, wodurch vorübergehend seine Stellung in der Akademie gefährdet war. Von 1852 bis an sein Lebensende war F. noch eifrig schriftstellerisch tätig. Er hatte Umgang mit angesehenen Zeitgenossen und unternahm wieder Reisen, doch zehrte er in erster Linie von dem Ruhm des voraufgegangenen Jahrzehnts.
F.s wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung besteht darin, daß er als Anreger und Bahnbrecher dem Wissen um das byzantinische Mittelalter allgemeinere Anerkennung verschaffte. In diesem begrenzten Sinne ist er ein Mitbegründer der historischen Byzanzforschung.
Unter der Einwirkung der Aufklärung (Pierre Bayle, Voltaire, Montesquieu), als Kind des Liberalismus und in der Nachfolge des aufklärerischen Geschichtsschreibers Edward Gibbon wertete er die religiösen Kräfte negativ; in ihnen sah er die Ursachen des Verfalles des oströmischen Reiches. Mit feinem Gespür für den Umschlag philhellenischer Begeisterung in Enttäuschung erklärte er die Neugriechen als eine Mischung aus slawischen und albanischen Einwanderern. In den Adern der Neugriechen fließe - so behauptete er - „kein Tropfen althellenischen Blutes“. Die staatliche Fortsetzung des romäischen Reiches sei das osmanische Sultansreich, sein weltgeschichtlicher Erbe sei die siegreich aufsteigende Universalmonarchie Rußland.
Die historisch-philologische Einzelforschung hat inzwischen längst erwiesen, daß eine mächtige Kontinuität das antike Hellas mit dem christlich gewordenen Griechentum des Mittelalters und mit dem neugriechischen Volke verbindet. F.s abweichende Thesen sind zum größeren Teile hinfällig.
Von säkularer Bedeutung war F. für den deutschen Journalismus. Seine zahlreichen Beiträge in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“, dem Blatt des liberalen Bürgertums, und in verschiedenen anderen Presseorganen machten ihn im letzten Jahrzehnt des deutschen Vormärz zum herausragenden deutschen Publizisten. Sein Ansehen in weiten Leserkreisen, das über das gebildete Publikum hinausreichte, verdankte er der souverän gehandhabten Verknüpfung von Tagespolitik, Kulturkritik und Exotik mit griffigen geschichtsphilosophischen Formeln aufklärerisch-liberaler Provenienz - dies alles vor einer weiten universalhistorischen Perspektive. Mit seiner Warnung vor der Bedrohung Europas durch Rußland war er damals zwar nur eine von vielen liberalen und radikaldemokratischen Stimmen, doch verliehen seine scharfsinnigen Argumente ihr besonderes Gewicht. Nicht zuletzt war es aber der Glanz seiner Sprache, der eine starke Wirkung auf die Zeitgenossen ausübte.
Außer den beiden bereits genannten Veröffentlichungen F.s sollen hier noch erwähnt werden: „Über die Wichtigkeit und den Nutzen geschichtlicher Studien“ (Landshut 1827), „Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters“ (2 Teile, Stuttgart 1830/36), „Welchen Einfluß hatte die Besetzung Griechenlands durch die Slawen auf das Schicksal der Stadt Athen und der Landschaft Attika?“ (Stuttgart 1835), „Originalfragmente, Chroniken, Inschriften und anderes Material zur Geschichte des Kaisertums Trapezunt“ (2 Teile, München 1843/44), „Das albanesische Element in Griechenland“ (3 Teile, München 1857/61). F.s „Gesammelte Werke“ sind von Geo. Mart. Thomas (3 Bände, Leipzig 1861; Neudruck Amsterdam 1970), seine Schriften in Auswahl von Hans Feigl und Ernst Molden (Schriften und Tagebücher, München 1913) bzw. von Emil Mika (Byzanz und das Abendland, Wien 1943) herausgegeben worden. Verstreut an verschiedenen Orten wurden gedruckt a) eine Reihe von Briefen, b) zahlreiche größere und kleinere Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften, vor allem in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ und in den „Gelehrten Anzeigen“. Unveröffentlicht blieben bis heute F.s Tagebücher aus den Jahren 1831 bis 1861; die Handschrift befindet sich im Museum Ferdinandeum zu Innsbruck.
Literatur
Mitterrutzner, Johannes Chrisostomus: Fragmente aus dem Leben des Fragmentisten. Brixen 1887.
Babinger, Franz: Fragmentistenbriefe. Aus meiner Fallmerayer-Mappe. [Bozen 1921].
Zahlfleisch, Josef: J. Ph. Fallmerayer und seine Werke. (Diss.) Innsbruck 1922. (Mskr.)
Sablotny, Ewald: J. Ph. Fallmerayer und die orientalische Frage. Ein Beitrag zur deutschen Publizistik des 19. Jh.s. (Diss.) Jena 1924.
Babinger, Franz: Fragmentistenbriefe. In: Euphorion 26 (1925) 270-277.
Eberl, Hans Otto: J. Ph. Fallmerayers Schriften in ihrer Bedeutung für die historische Erkenntnis des graeko-slavischen Kulturkreises. (Diss. Kiel) Berlin 1930.
Seidler, Herbert: J. Ph. Fallmerayers geistige Entwicklung. Ein Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 19. Jh.s. München 1947. = Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Kl. N.F. 26.
Antonopulo, Elisabeth: J. Ph. Fallmerayer. Eine Untersuchung der „Fragmente aus dem Orient“. (Diss.) Wien 1948.
Hintermaier, Hans (Hrsg.): Fallmerayer’s Briefe an Anselm Prugger von Pruggheim und Valentin Forer. In: Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 31 (1951) 279-288.
Rauch, Georg von: J. Ph. Fallmerayer und der russische Reichsgedanke bei F. I. Tjutčev. In: Jb. Gesch. Osteuropas 1 (1953) 54-96.
Babinger, Franz: Der Akademiestreit um J. Ph. Fallmerayer (1851). München 1959.
Kollautz, Arnulf: J. Ph. Fallmerayers Korrespondenz mit Karl Benedikt Hase und Oerstedt über die Geschichte des Kaisertums von Trapezunt. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der gräko-slawischen Frage. In: Südost-Forsch. 18 (1959) 281-350.