|
|
|
Renner, Karl, österreichischer Politiker und marxistischer Theoretiker, * Unter-Tannowitz (Dolní Dunajovice, Südmähren) 14.12.1870, † Wien 31.12.1950.
Leben
Außergewöhnliche Intelligenz ermöglichte den aus einer proletarisierten südmährischen Kleinbauernfamilie stammenden R. den Besuch des Gymnasiums in Nikolsburg (Mikulov) und das Jus-Studium in Wien. Ab 1893 im engsten Kreis der führenden Sozialdemokraten Wiens, widmete sich R. in seinen theoretischen Arbeiten (z.T. unter dem Pseudonym Rudolf Springer) der nationalen Frage. Stets war er um eine Lösung der Frage nach der Vereinbarkeit von staatlicher Ordnung und national-ethnischen Gegebenheiten bemüht: „Staat und Nation“ (Wien 1899), „Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat“ (Wien 1902), „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich“ (Wien 1910), „Die Nation: Mythos und Wirklichkeit“ (aus seinem Nachlaß 1953 herausgegeben). Nicht Aufsplitterung Österreichs auf mehr oder minder ethnisch einheitliche (Teil-)Staaten, sondern Beibehaltung des staatlichen Rahmens bei Gewährung nationaler Freiheiten auf der Grundlage des Bekenntnisrechtes war sein Programm. Diese „existentialistische Konzeption“ (Yvon Bourdet) betrachtet das ethnische Zusammengehörigkeitsgefühl als zu schützendes Individualrecht, wobei organisierte Formen der Autonomie, die die Konnationalen zusammenfassen, nie den Rahmen kultureller Autonomie überschreiten. Im Grunde lief dieses Konzept auf eine Konservierung der bestehenden Dominanz des deutschen Elements hinaus, wie sie durch den Aufstieg der Nichtdeutschen bedroht war. Allein die Ausbildung territorialer Einheiten mit eigener nationaler und staatlicher Autorität gab den Nichtdeutschen die Chance eines ungehinderten Aufstiegs zu Nationen. R., der im Verlaufe des Ersten Weltkriegs noch zu den eifrigsten Befürwortern des Vielvölkerstaates zählte („Österreichs Erneuerung“, Wien 1916), fand nach dem Krieg auch in die neuen Verhältnisse. Als Autorität sowohl von den Bürgerlichen, die zu diesem Zeitpunkt ohne Sozialdemokraten gar nicht in der Lage gewesen wären, den Herrschaftsapparat zu rekonstruieren, wie auch von der Spitze seiner Partei akzeptiert, leitete er (zuerst von Oktober 1918 bis März 1919 als Leiter der Staatskanzlei, dann bis Juli 1920 als Staatskanzler) eine Koalitionsregierung. Seine bleibende Affinität zur Donauraumpolitik bewies er als Staatssekretär für Äußeres (Juli 1919 bis Oktober 1920): Nach dem Scheitern der Anschlußidee, die eine Eingliederung der sudetendeutschen Provinzen in Österreich involvierte, gelang ihm eine weitgehende Abstimmung mit der Prager Politik (Januar 1920) und zugleich mit der Kleinen Entente. Auch im gesellschaftspolitischen Bereich stellte R. in dieser Zeit die Einheit seiner theoretischen Ansichten und praktischen Politik unter Beweis. Es war stets um eine Verschmelzung der politischen Macht der Arbeiterklasse mit jener des Staates bemüht; aus der Tatsache der immer stärker spürbaren Eingriffe des staatlichen Apparats in den ökonomischen Prozeß zog er den Schluß einer wachsenden Entfremdung zwischen Staat und Kapital: tendenziell wachse der Einfluß des Proletariats in einem Staat, der sich mehr und mehr mit Aufgaben der sozialen Verwaltung beschäftigt, in dem das Eigentum immer offensichtlicher seinen „öffentlichen“ Charakter enthüllt. Die Durchstaatlichung der Wirtschaft, ihrem Wesen nach dem „Verwaltungsprinzip“ einer organisierten sozialistischen Wirtschaft näher als dem anarchischen Prinzip der liberalen Wirtschaft, sei die direkte Vorbereitung für die Sozialisierung der Gesamtwirtschaft, die in einem reinen Verwaltungsakt zu bewältigen sei. R., der die Marxsche Erkenntnis von Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit akzeptiert, akzeptiert nicht die Notwendigkeit der Emanzipation des Proletariats aus diesem Verhältnis durch einen rigorosen Befreiungsakt, durch abrupte Übernahme der gesamten staatlichen Gewalt. Diese Form der Emanzipation erscheint ihm aufgrund der Wirtschaftsfunktion des Staates geradezu undurchführbar. Indem ihm die gesellschaftliche Realität als ein Konglomerat staatlicher Verwaltung erscheint, übersieht er die Aneignung der gesellschaftlichen Arbeit durch das monopolisierte Kapital; den Staat als Herrschaftsinstrument in seiner Funktion für die Reorganisierung der Kapitalverwertungsbedingungen unter extremen Umständen (Krieg, Arbeiterbewegung, nationale Frage) begreift er nicht. Auch nach dem Zerfall der Koalition 1920 blieb R. seinem Programm der Klassenversöhnung ,,auf dem grünen Tisch“ verpflichtet. Noch nach dem Staatsstreich der Austrofaschisten im März 1933 versuchte er als Nationalpräsident eine Parlamentssitzung einzuberufen; nach den Februarkämpfen 1934 betätigte er sich nicht in der illegalen Arbeit linker Organisationen. Symbol jahrzehntelanger sozialdemokratischer Arbeit für den demokratischen Verfassungsstaat, genoß R. nach dem Zweiten Weltkrieg als Staatskanzler das Vertrauen auch der bürgerlichen Parteien, und es gelang ihm, die Anerkennung der Wiener Regierung durch die vier Besatzungsmächte zu erreichen. R. starb 1950 als Bundespräsident. Weitere Hauptwerke R.s sind: „Die soziale Funktion der Rechtsinstitute, besonders des Eigentums“ (Wien 1904, unter dem Pseudonym J. Karner), „Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie“ (Wien 1906, unter dem Pseudonym Rudolf Springer), „Marxismus, Krieg und Internationale“ (Stuttgart 1917), „Die Wirtschaft als Gesamtprozeß und die Sozialisierung“ (Berlin 1924) sowie die beiden Autobiographien „An der Wende zweier Zeiten“ (Wien 1946) und „Österreich von der ersten zur zweiten Republik“ (Wien 1953).
Literatur
Hannak, Jacques: Karl Renner und seine Zeit. Wien 1965.
Leser, Norbert: Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Wien 1968.
Bourdet, Yvon: Karl Renner. In: Dictionnaire Biographique du Mouvement ouvrier international. I. Autriche. Paris 1971.
Haas, Hanns: Die deutsch-böhmische Frage 1918-1919 und das österreichisch-tschechoslowakische Verhältnis. In: Bohemia 13 (1972) 336-383.
Redžić, Enver: Austromarksizam i jugoslavensko pitanje. Beograd 1977.
|
|
|
|
|