Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

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Steinacker, Edmund

Steinacker, Edmund, deutschungarischer Politiker, * Debrecen 23.08.1839, † Klosterneuburg b. Wien 19.03.1929, Sohn des evangelischen Pfarrers und Pädagogen Gustav St. und der Senatorstochter Aurelie Westher aus Käsmark/Zips.

Leben

Die politisch-weltanschauliche Grundhaltung von St. dürfte durch das Vorbild seiner Eltern geprägt worden sein: von seiten besonders der mütterlichen Familie wurde ihm das Erlebnis zugleich bürgerlich-liberalen und ungarisch-patriotischen Widerstands gegen den Absolutismus vermittelt, von seiten des Vaters der Eindruck eines politischen und theologischen Liberalismus in deutsch-mitteleuropäischem Zusammenhang.
Auf die teils in Ungarn, teils in Weimar verbrachte Jugend folgten Lehr- und Wanderjahre u. a. in Stuttgart (1858-1864), wo St. an der Polytechnischen Schule die Ausbildung zum Eisenbahningenieur absolvierte, und in Paris (1866/67), während derer er aktuelle Varianten des südwestdeutschen und des westeuropäischen Liberalismus kennenlernte. 1867 kehrte St. nach Ungarn zurück, wo er nach kurzer Tätigkeit als Eisenbahningenieur 1868 Direktor des Ungarischen Landesindustrievereins wurde. Von 1869 bis 1892 hatte er die Stellung eines Notars, dann diejenige eines „Sekretärs“ bzw. Syndikus der Budapester Handels- und Gewerbekammer inne. Unter dem Einfluß seines Schwiegervaters, des entschieden deutschungurischen Publizisten Eduard Glatz, aber ohne seine durchaus magyarenfreundliche und ungarisch-patriotische Haltung grundsätzlich zu revidieren, trat St. im Parlament als Vertreter der siebenbürgischen Wahlkreise Bistritz und Heltau (1875-1878 bzw. 1881-1888) durch aufsehenerregende Kritik an der sich seit Kálmán Graf Tiszas Regierungsantritt im Jahre 1875 abzeichnenden Entwicklungsrichtung von Politik und Wirtschaft hervor. Er sah die wirtschaftliche Modernisierung Ungarns durch Widerstände von seiten vorindustrieller Schichten der Gesellschaft, durch Finanzierungsprobleme und konjunkturelle Störungen gefährdet; die politische Modernisierung, d. h. Aufwertung des Parlaments und Herstellung einer ungarischen Nation gleichberechtigter Bürger verschiedenen Standes und verschiedener Nationalität wurde ihm ebenfalls zweifelhaft. Dieser antiliberale, antimodernistische Wandel der innen- und reichspolitischen Umgebung wurde in sehr viel höherem Maße als sein persönlicher Wille bedeutsam für St.s Entwicklung vom bürgerlich-liberalen Innenpolitiker deutscher Herkunft zum deutschen Minderheitenpolitiker bereits während der 1880er Jahre. Davon zeugen seine Bemühungen um eine ungarische „Bürgerpartei“ und sein oppositionelles Auftreten als sächsischer Abgeordneter.
Um 1890 war St. in Budapest politisch und beruflich isoliert; er übersiedelte nach Wien bzw. Klosterneuburg bei Wien. Gegen Ende der 1890er Jahre wurde er zur zentralen Gestalt der deutschungarischen Minderheitenbewegung, die an der Jahrhundertwende einen deutlichen Aufschwung nahm. Sein Einsatz erreichte am 30. Dezember 1906 einen Höhepunkt, als in Werschetz die „Ungarländisch-Deutsche Volkspartei“ (UDVP) gegründet wurde. Sie forderte vor allem die Realisierung der Bestimmungen des ungarischen Nationalitätengesetzes von 1868. Im einzelnen befürwortete sie die Liberalisierung von kommunaler Selbstverwaltung, von Genossenschaftswesen, Vereins- und Versammlungsrecht; sie trat für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und für staatliche Unterstützung der Landwirtschaft ein. Die politische Aufklärungsarbeit der deutschen Bewegung unter der bäuerlichen schwäbischen Bevölkerung besonders Süd- und Westungarns wurde durch eine wachsende Zahl von sympathisierenden Provinzzeitungen gefördert; führendes Blatt war das seit dem 16. Dezember 1900 in Temeschwar erscheinende „Deutsche Tagblatt für Ungarn“, das 1904 in die Wochenzeitung „Deutschungarischer Volksfreund“ umgewandelt wurde. Es stand unter St.s bestimmendem Einfluß; zugleich war St. im Sinne der UDVP als Mitarbeiter außerungarischer Zeitungen tätig, - u. a. der „Münchner Neuesten Nachrichten“, der „Kreuzzeitung“ (Berlin), der „Kölnischen Zeitung“ und der „Neuen Züricher Zeitung“.
Wichtigere Mitglieder bzw. Partner des um St. und den Rechtsanwalt Ludwig Kremling, dem Vorsitzenden der UDVP, gruppierten Kreises von Minderheitenpolitikern waren neben St.s engstem Mitarbeiter, dem Hermannstädter Reichstagsabgeordneten Rudolf Brandsch, der Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn in Wien, der Gutsbesitzer Karl Wollinger als St.s Helfer in Westungarn; in Südungarn der stellvertretende UDVP-Vorsitzende Johann Röser und der Sparkassendirektor Johann Anheuer sowie u.a. Reinhold Heegn, Julius Neukomm, Stefan Kraft und - in Syrmien - Ferdinand Riester.
Erfolge zeichneten sich bereits vor Beginn des Ersten Weltkrieges in den Bereichen von Kommunalpolitik und Schutzvereinswesen ab. Es gelang, auf die Zusammensetzung von Gemeinderäten, Schul- und Kirchenstühlen Einfluß zu nehmen. Außerdem schuf man ein Netz minderheitenpolitischer Spezialorganisationen: Bauern-, Raiffeisen- und Bildungsvereine, den „Deutschen Bauernbund“, den „Deutsch-ungarischen Kulturrat“ und die „Vereinigung deutscher Hochschüler aus den Ländern der ungarischen Krone“. Allerdings konnte die weitverbreitete unpolitisch-patriotische Grundhaltung der schwäbischen Bauern vor 1914 noch nicht im erhofften Ausmaße zu bewußter und öffentlich bekundeter Zustimmung für St.s Ziel, der deutschungarischen „Gemeinbürgschaft“ als politisch-kultureller Einheit, umgeformt werden.
Insofern zeigt sich die Bedeutung der UDVP als St.-partei weniger in ihrem tatsächlichen Auftreten vor 1914 als in den Zukunftsperspektiven, die sich für sie aus der Zusammenarbeit mit außerungarischen Instanzen ergaben. St., der seit ungefähr Mitte März 1907 Mitglied des Beraterkreises des Thronfolgers war, dürfte auf Programmdiskussion und -bildung der ,Belvedere‘-Nebenregierung Einfluß genommen haben. In dem seit 1912 erarbeiteten sog. Eichhoff-Programm, einer Art Regierungsprogramm Franz Ferdinands, nahm das Projekt einer antidualistischen, auf Schwächung Budapests gerichteten Reichsreform eine wichtige Stelle ein. Durch Einführung des allgemeinen Wahlrechts gedachte man, die parlamentarische Uberrepräsentierung des magyarischen Bevölkerungsteils zu beseitigen. Zwischen dem zugleich durch Teilföderalisierung des Gesamtstaates aufzuwertenden rumänisch-slawischen und dem magyarischen Lager wäre infolgedessen den ca. zwei Millionen Deutschen im transleithanischen Raum die Rolle des Züngleins an der Waage zugekommen; die Führung der UDVP hätte mit der Rückendeckung durch den Monarchen auftreten können.
St. bediente sich auch der Unterstützung durch den ,,Alldeutschen Verband“ (ADV), mit dessen Führungsgruppe er sehr eng zusammenarbeitete. Ob die UDVP vom ADV finanziell abhängig war, ob sie also letzten Endes reichsdeutschen Anhängern einer imperialistischen Südostpolitik ,Berlins“ näher stand als dem Thronfolger, ist in der neueren Literatur umstritten. Widerlegt dürfte lediglich die Auffassung sein, St. und die UDVP hätten reine Minderheitenpolitik ohne außerungarischen Zusammenhang betrieben. Desgleichen die weitverbreitete Interpretation der deutschungarischen Politik allein vor „deutschvölkischem“ Hintergrund -, sei es, um St. als Wegbereiter späterer Entwicklungen hervorzuheben oder zu verurteilen: Liberalismus, Dynastietreue und wirtschaftspolitischer Sachverstand sollten als Elemente seiner Willensbildung nicht unterschätzt'werden. Darauf weisen auch seine Beiträge zur „Mitteleuropa-“ und Reichsreformdiskussion während des Ersten Weltkrieges hin: als Mitarbeiter u. a. des Kreises um Fieinrich Friedjung wandte er sich z.B. dagegen, innenpolitische Reformvorschläge zu konservativ zu gestalten und zisleithanische gegenüber transleithanischen Gesichtspunkten zu stark zu betonen.
Der Ausgang des Ersten Weltkrieges machte St.s Pläne zunichte: die Einheit nicht nur der Donaumonarchie, sondern auch diejenige des schwäbischen Siedlungsgebietes wurde zerstört. Obwohl St. - nun mehr als achtzigjährig - keine aktive politische Rolle übernahm, blieb er doch während der zwanziger Jahre als Ratgeber jüngerer auslandsdeutscher Politiker wie Rudolf Brandsch und Guido Gündisch, überhaupt als aufmerksamer Beobachter auf der minderheitenpolitischen Szene, die inzwischen auch seine Söhne, der Historiker Harold St. (26.05.1875-29.01.1965) und der Theologe Roland St. (29.09.1870-14.06.1962) betreten hatten, gegenwärtig.

Literatur

Steinacker, Edmund: Lebenserinnerungen. München 1937.
Groneweg, Barbara: Die Anfänge der volkspolitischen Arbeit Edmund Steinackers 1867-1892. München 1941.
Priller, Friedrich: Edmund Steinacker als Journalist in der Habsburgischen Monarchie im Zeitalter des Dualismus. (Diss.) München 1960.
Steinacker, Harold: Edmund Steinacker 1839-1929. In: Ders.: Austro-Hungarica. München 1963, 312-325.
Tokody, Gyula: Ausztria-Magyarország a Pángermán szővetség 1890-1918. Budapest 1963.
Madaras, Eva: Die Tätigkeit Edmund Steinackers zur Hebung des nationalen Selbstbewußtseins des ungarländischen Deutschtums im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In: Acta Universitatis Debreceniensis, Series historica 3 (1964) 111-140.
Kemény, Gábor G.: Iratok a nemzetiségi kérdés történetéhez magyarországon a dualizmus korában. 5 Bde. Budapest 1952/71.
Senz, Ingomar: Die nationale Bewegung der ungarländischen Deutschen vor dem ersten Weltkrieg. München 1977.
Schödl, Günter: Alldeutscher Verband und deutsche Minderheitenpolitik in Ungarn, 1890-1914. Frankfurt/M. 1978.

Verfasser

Günter Schödl (GND: 119494264)


GND: 118798596

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Empfohlene Zitierweise: Günter Schödl, Steinacker, Edmund, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 194-197 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1698, abgerufen am: (Abrufdatum)

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