Thaly, Kálmán, ungarischer Geschichtsschreiber, Dichter und Politiker, * Csép (Komitat Komárom) 3.01.1839, † Zablát (Komitat Trentschin) 26.09.1909.
Leben
Th. studierte Theologie der reformierten Kirche sowie Rechtswissenschaften. Von 1860 bis 1864 war er Mitarbeiter des Pester Tageblattes „Pesti Naplö“. 1864 wurde er als Professor an das Pester reformierte Obergymnasium berufen. Nach fünfjähriger Lehrtätigkeit wurde er 1869 als Sektionsrat ins Honvédministerium berufen, gab diese Stellung aber 1875 aus Gesundheitsgründen auf, um sich in den nächsten Jahren ausschließlich seinen historischen Forschungen zu widmen. Bereits in jungen Jahren veröffentlichte Th. mehrere Bände patriotischer Dichtung (Ne bántsd a magyart! [Greife den Ungar nicht an!], 1857; Zengő liget [Tönender Hain], 1859; Kárpáti kürt [Karpaten-Posaune], 1860; Székely kürt [Szekler Posaune], 1861). Zu seinen wichtigeren historischen Arbeiten gehören die Editionen epischer Quellen und schriftlicher Nachlässe aus den Unabhängigkeitskämpfen des 17. Jh.s und dem Freiheitskampf unter Franz II. Rákóczi, die die ersten zehn Bände des „Archívum Rákóczianum“ (1873/89) ausmachen. Außerdem publizierte Th. mehrere Bände historischer Gesänge, Balladen und Heldenklagen aus dem 16.-18. Jh. (Adalékok a Thököly és Rákóczi-kor irodalom- történetéhez [Beiträge zur Literaturgeschichte der Thököly- und Rákóczi-Zeit], 2 Bde, Pest 1872; Irodalmi és müveltségtörténeti tanulmányok a Rákóczi-korból [Literarische und kulturgeschichtliche Studien zur Rákóczi-Zeit], Budapest 1885). Von ihm stammen die Begriffe „Kuruzzen-Zeitalter“ (kuruc-kor) und „Kuruzzendichtung“ (kuruc költészet). Studien über Kriegsgeschichte und Heraldik sowie Arbeiten, in denen die Biographien berühmter Führer des Freiheitskampfes behandelt wurden (János Bottyán, kommandierender General des Fürsten Franz II. Rákóczi, 1865; László Ocskay, Brigadegeneral des Fürsten Rákóczi bei den oberungarischen Kriegszügen von 1703 bis 1710, 1880; Die Jugend des Fürsten Franz II. Rákóczi, 1881; Die Familie des Grafen Bercsényi von Székes, 3 Bde, 1885/92 u.a.) sollten die historischen Rechte der ungarischen Adelsklasse bestätigen.
Th.s Geschichtsbetrachtungen sind von einer überzeitlichen Freiheitsidee und dem Heldenkult der Romantik geprägt. In den Beschreibungen der extremen Lebensweisen des Adels, die seine kulturhistorischen Studien enthalten, wird der Einfluß der Taineschen Richtung des Positivismus deutlich. Mit ihrem archaisierenden Stil und ihrer nationalistischen Färbung befriedigten seine Werke die Nostalgie der ehemaligen Klasse des mittleren Adels sowie der Gentry und erreichten einen unvergleichlichen Erfolg. Als Landtagsabgeordneter (ab 1878) und später als Vizepräsident der Unabhängigkeitspartei (Függetlenségi Párt), die sich gegen den Ausgleich mit Österreich von 1867 stellte, versuchte er, den in weiten Kreisen der ungarischen Gesellschaft lebendigen Rákóczi-Kult für sich zu beschlagnahmen und zu entstellen. Mit der Aufgabe seiner oppositionellen Haltung (1904) gewann er sozusagen als Begründer des parlamentarischen Friedens von Kaiser Franz Joseph I. die Erlaubnis, die in der Türkei ruhende Asche Franz II. Rákóczi nach Ungarn heimbringen zu dürfen (1906). Die schönsten Stücke in Th.s historischer Liedersammlung sind, wie Friedrich Riedl nachwies (A kuruc balladák, in: Irodalomtörténeti közlemények 1913), seine eigenen, sehr geschickt nachempfundenen Imitationen. Diese Balladenfälschungen wurden durch die Kritik Gyula Szekfüs, der diese Methode der Geschichtsschreibung als unwissenschaftliche qualifizierte, zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, welche die ungarische Öffentlichkeit ein halbes Jahrhundert lang beschäftigten.
Th. war Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (ab 1864), Mitglied der Ungarischen Historischen Gesellschaft (1867-1875) und deren zweiter Vorsitzender (ab 1889) sowie Herausgeber der Zeitschrift „Századok“ (Jahrhunderte, 1867-1875).