Tisza, István (Stephan) Graf, ungarischer Politiker, * Budapest 22.04.1861, † (ermordet) ebd. 31.10. 1918, Sohn von Kálmán T.
Leben
T., Sproß einer alten kalvinistischen Adelsfamilie, wuchs auf dem Gut seiner Familie in Geszt im Komitat Bihar auf. Nach Beendigung der Höheren Schule am Kalvinistenkolleg in Debreczin ging T. nach Deutschland, wo er in Heidelberg und Berlin Wirtschaft, Politische Wissenschaften und Geschichte studierte. Seine Universitätsstudien schloß er in Budapest ab, wo er im Alter von 20 Jahren zum Doktor der Politischen Wissenschaften promovierte. Nach einjährigem Militärdienst in einem Kavallerieregiment übernahm er die Verwaltung der Familiengüter und befaßte sich mit den sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten des Komitats Bihar. 1883 heiratete er eine Kusine zweiten Grades, Ilona T.
T. begann seine politische Laufbahn 1886, als er über die Liste der Liberalen Partei (Szabadelvű párt) in das Parlament gewählt wurde. Er bewies bald, daß er ein integrer Mann von festen Überzeugungen war, und verteidigte standhaft den Ausgleich von 1867, den er als Garantie zur Sicherung der magyarischen Vorherrschaft in Ungarn und des magyarischen Einflusses in der Monarchie betrachtete. 1898 erbte er den Grafentitel von seinem Onkel Lajos Graf T. In den nächsten Jahren gewann er beträchtlichen Einfluß innerhalb seiner Partei und wurde am 3. November 1903 zum Premierminister ernannt. In diesem Amt wollte er eine Revision der Geschäftsordnung des ungarischen Parlaments durchführen, er stieß jedoch auf aggressive Obstruktion seitens der radikaleren Mitglieder der Opposition. Diese Blockierung führte im Januar 1905 zu Neuwahlen, die zu einer verheerenden Niederlage für T. und seine Partei führten und im Juni 1905 seinen Rücktritt bewirkten.
Nach einer Interimsregierung unter Baron Géza Fejérváry wurde Sándor Wekerle am 8. April 1906 Premierminister einer Koalitionsregierung, in der die Unabhängigkeitspartei eine dominierende Rolle spielte. Daraufhin löste T. die Liberale Partei auf und zog sich aus dem aktiven politischen Leben zurück. Dieser Rückzug erwies sich als sehr wertvoll, da T. nach dem Zusammenbruch der Koalition Ende 1909/Anfang 1910 in gefestigter Position auf- treten konnte, unversehrt von den Fehlschlägen der vorangegangenen Koalitionszeit. Er reorganisierte seine Partei, gab ihr den neuen Namen Nationale Partei der Arbeit (Nemzeti Munkapárt) und hatte wesentlichen Anteil an dem überwältigenden Sieg seiner Partei bei den Wahlen vom Juni 1910. Während dieser Zeit blieb T. im Hintergrund, obwohl er entscheidenden Einfluß auf die Regierungspolitik ausübte. 1911 wurde er Mitgründer der Zeitschrift „Magyar Figyelő“ (Ungarischer Beobachter), die dann sein Hauptsprachrohr wurde und seine grundsätzlich konservative Einstellung nicht nur in politisch-ideologischer Hinsicht, sondern auch in kulturellen und gesellschaftlichen Dingen widerspiegelte. T. übernahm im Mai 1912 wieder eine verantwortungsvolle Stellung, als er Präsident der Abgeordnetenkammer wurde. In dieser Eigenschaft sicherte er - oft mit harten Maßnahmen, wie die Entfernung der oppositionellen Obstruktionspolitiker aus dem Parlament mit Hilfe der Geschäftsordnung - die Annahme der Armeegesetze, die die österreichisch-ungarische Armee stärken sollten. Am 10. Juni 1913 wurde er zum zweiten Mal zum Ministerpräsidenten ernannt.
Die Balkankriege von 1912-1913 schufen eine potentiell explosive Lage, in die Österreich-Ungarn unmittelbar verwickelt wurde. T. vertrat eine Politik der Stärke, jedoch, wenn irgend möglich, ohne militärisches Eingreifen. Nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo war T. der einzige unter den führenden Staatsmännern der Monarchie, der gegen den Krieg mit Serbien war, und nur der Druck, den seine österreichischen Kollegen und besonders Deutschland auf ihn ausübten, ließ ihn etwa Mitte Juli 1914 seine Meinung ändern. Er billigte die Überbringung eines scharfen Ultimatums, bestand aber auf einer offiziellen Verpflichtung zu einer Politik ohne Annexion hinsichtlich dieses Staates. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges war T.s Unterstützung vollständig und bedingungslos. Dank seiner starken Persönlichkeit, des königlichen Vertrauens, das er genoß, des Fehlens einer parlamentarischen Ordnung in Österreich und der wachsenden Bedeutung Ungarns als Kornkammer der Monarchie übte T. einen außerordentlichen Einfluß auf die Außenpolitik der Monarchie und zum Teil auch auf die militärische Seite der Kriegführung aus. T. hatte auch weiterhin sämtliche inneren Angelegenheiten Ungarns unter sich, jedoch begann sein gesamter Einfluß zu schwinden, als ihn die Opposition im Parlament nach der Kriegserklärung Rumäniens an die Monarchie und der Invasion in Siebenbürgen am 27. August 1916 für die mangelnde Vorbereitung verantwortlich machte. Der Tod von Kaiser Franz Joseph am 21. November 1916 und die Thronbesteigung des Erzherzogs Karl versetzte T.s schwindenden Ansehen und Macht einen weiteren Stoß. Kaiser Karl I. (als Karl IV. König von Ungarn) betrachtete T. als Hindernis für die bedeutungsvolle Ausdehnung des Wahlrechts in Ungarn, die eine breitere Unterstützung der Monarchie und der Politik des Königs durch das Volk herbeiführen sollte. Da T. sich weigerte, in der Wahlrechtsfrage nachzugeben, wurde er am 23. Mai 1917 ersucht, seinen Rücktritt einzureichen. Nichtsdestoweniger blockierte T., der noch der Führer einer Mehrheit in der Abgeordnetenkammer blieb, weiterhin wirksam ein Demokratisierungsprogramm. Während der Parlamentsferien diente T. freiwillig als Husarenoberst zuerst an der russischen, später an der italienischen Front. Im September 1918 bereiste er Kroatien und Bosnien, aber der nachfolgende militärische Zusammenbruch machte jeden Versuch einer gütlichen Einigung mit den nationalen Minderheiten der Monarchie illusorisch. T. selbst erklärte am 18. Oktober 1918 im Parlament den Krieg für verloren. Er blieb trotz des Rates seiner Freunde, die inmitten einer turbulenten und unvorhersagbaren politischen Lage um sein Leben fürchteten, in Budapest. In der Nacht vom 30. zum 31. Oktober brach eine Revolution aus, und T. wurde am 31. Oktober von einer Gruppe Soldaten, die ihn für den Krieg verantwortlich hielten, ermordet.
T.s gesammelte Werke (összes munkái) erschienen in sechs Bänden 1923/27 in Budapest. 1928 erschienen in Berlin seine „Briefe (1914-1918)“ und 1930/37 in Budapest in vier Bänden seine Parlamentsreden (Képviselőházi beszédei).
Literatur
Jovanović, Jov. M.: Stevan Tisa i Srbija 1914-1916. In: Glasn. ist. Društ. 4 (1931) 419-435.
Erényi, Gustav: Graf Stefan Tisza. Wien, Leipzig 1935.
Hegedűs, Lóránt: Két Andrássy és két Tisza. Budapest 1937.
Galántai, József: István Tisza und der erste Weltkrieg. In: Ann. Univ. Budapest, Sect. hist. 5 (1963) 185-205.
Ders.: Der Sturz der Tisza-Regierung im Jahre 1917. In: ebd. 7 (1965) 127-145.
Ders.: Die Kriegszielpolitik der Tisza-Regierung 1913-1917. In: Nouvelles études historiques. Bd 2. Budapest 1965, 201-225.
Szász, Zoltán: A román kérdés Tisza István első kormányának politikájában. In: Tört. Szle 11 (1969)254-293.
Pölöskei, Ferenc: Tisza István nemzetiségi politikája az első világháború előestéjén. In: Századok 104 (1970) 3-34.