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Gratz, Gustav, deutschungarischer Politiker, Publizist und Historiker, * Göllnitz (Zips) 30.03.1875, † Budapest 21.11.1946, aus einer deutschen Bürgerfamilie der oberungarischen Bergstädte; Sohn eines evangelischen Pfarrers und Seniors.
Leben
G. wuchs in deutscher und ungarischer Umgebung auf. Nach dem Studium in Klausenburg und Budapest und dem Erwerb des staatswissenschaftlichen Doktorates war er zunächst als Korrespondent auswärtiger Zeitungen (Neue Freie Presse, Wien; Kölnische Zeitung) und Schriftleiter am deutschsprachigen Regierungsblatt „Pester Lloyd“ tätig. Frühzeitig erwarb er sich als finanzpolitischer Schriftsteller und Wirtschaftsfachmann einen Namen. 1906 wurde er im siebenbürgischen Wahlkreis Leschkirch (Újegyház) als parteiloser Abgeordneter in das ungarische Parlament gewählt; er trat nach den Wahlen der „Verfassungspartei“ (Alkotmánypárt) Julius Andrássys d. J. bei. Ab 1910 war er - gleichfalls in Leschkirch - Abgeordneter der „Partei der nationalen Arbeit“ (Nemzeti Munkapárt). 1912 übernahm er die Geschäftsführung des ungarischen Industriellenverbandes (Gyáriparosok Országos Szövetsége = GyOSz). Während des Ersten Weltkrieges war G. vom 15. Juni bis 16. September 1917 Finanzminister in der Regierung von Fürst Móricz Esterházy und nahm an den Wirtschaftsverhandlungen des Friedensvertrages von Brest-Litowsk und Bukarest auf österreichisch-ungarischer Seite teil.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde G. nach dem Sturz der Räteregierung ungarischer Gesandter in Wien, vom 17. Januar bis 12. April 1921 Außenminister im Kabinett des Grafen Pál Teleki. G. genoß als Legitimist großes Vertrauen bei König Karl IV., dessen Rückkehr nach Ungarn er aktiv unterstützte. Dadurch kam er mit dem Reichsverweser Miklós Horthy in Konflikt, der ihn beim zweiten Rückkehrversuch des Königs für mehrere Wochen in Haft nehmen ließ. Danach widmete sich G. vornehmlich historischen und wirtschaftspolitischen Studien. Die Standardwerke „Der wirtschaftliche Zusammenbruch Österreich-Ungarns“ (Wien 1930), „A dualizmus kora 1867- 1918“ (Das Zeitalter des Dualismus 1867-1918, 2 Bände, Budapest 1934), „A forradalmak kora 1918-1919“ (Das Zeitalter der Revolutionen 1918-1919, Budapest 1935) geben davon ein beredtes Zeugnis. Ab 1926 gehörte er wieder als Parteiloser dem Parlament an, doch unterstützte er die Regierung. 1926 und 1931 vertrat er den vorwiegend von Deutschen bewohnten Wahlkreis Bonyhád (Komitat Tolnau), 1936 wurde er als Kandidat der „Bürgerlichen Freiheitspartei“ (Polgári Szabadságpárt) Károly Rassays in Budapest gewählt. Seine wissenschaftliche Leistung erfuhr 1941 durch seine Berufung zum korrespondierenden Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften eine Würdigung.
G. war zwischen den Weltkriegen eine der zentralen Figuren der an Persönlichkeiten armen deutschen Bewegung in Ungarn. Als Vertrauensmann der ungarischen Regierung stand er dem von Jakob Bleyer 1924 gegründeten „Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein“ als Präsident bis 1939 vor. Da er als erfahrener Diplomat und Politiker die realen Kräfteverhältnisse gut einzuschätzen vermochte, konnte er in dieser Funktion der nach kultureller Besserstellung ringenden deutschen Volksgruppe Ungarns manche Dienste leisten. Trotzdem blieben seine Bestrebungen bei den ungarländischen Deutschen nicht ohne Kritik. Vor allem wurde er von der 1935 aus dem „Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein“ abgespaltenen „Volksdeutschen Kameradschaft“ unter Franz Basch wegen seiner liberalen Haltung in Volkstumsfragen heftig bekämpft. Seine Grundsätze, die ihm als Leiter des „Ungarländischen Deutschen Volksbildungsvereins“ immer vorgeschwebt haben, und seine Haltung zur Frage des Deutschtums in Ungarn hat er in seinem Buch „Deutschungarische Probleme“ (Budapest 1938), einer Sammlung von Reden und Aufsätzen der Jahre 1924-1938, dokumentarisch festgehalten. Nach der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen im März 1944 war G. zeitweilig interniert.
Literatur
Klein, Karl Kurt: Richard Huss. Budapest 1943.
Annabring, Matthias: Volksgeschichte der Deutschen in Ungarn. Bd 1. Stuttgart 1954.
Kühl, Joachim: Das ungarländische Deutschtum zwischen Horthy und Hitler. Außenpolitik und Volkstumsfragen 1919-1944. In: Süd- ostdt. Heimatbl. 4 (1955) 117-147.
Schwind, Hedwig: Jakob Bleyer. München 1960.
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