Herder, Johann Gottfried von (geadelt 1802), deutscher Schriftsteller und Philosoph, * Mohrungen (Ostpreußen) 25.08.1744, † Weimar 18.12.1803, Sohn eines Kantors.
Leben
H. studierte ab 1762 in Königsberg Theologie und genoß die Unterweisung Kants und die Freundschaft Hamanns. Ab 1764 war er an der Domschule in Riga tätig und Prediger in zwei Hauptkirchen. 1771 wurde er zum Hauptpastor beim Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe nach Bückeburg berufen. Fünf Jahre später folgte er einer von Goethe veranlaßten Einladung des Herzogs Karl August nach Weimar, wo er als Generalsuperintendent und erster Prediger an der Stadtkirche tätig war.
Von seinen zahlreichen Schriften, die ihn als Vermittler zwischen Aufklärung und Romantik und als Theoretiker des „Sturm und Drang“ ausweisen, sind für seine Wirkungsgeschichte in Südosteuropa vor allem die Volksliedersammlung (1778 ff, in nachgelassener 2. Aufl. als „Stimmen der Völker in Liedern", 1807), die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784/91) und die „Briefe zur Beförderung der Humanität“ (1793/97) von Bedeutung. Seine Sprach- und Geschichtsphilosophie läßt sich hinsichtlich der Wirkungsgeschichte - stark vereinfacht - auf zwei Punkte reduzieren: 1) Hervorhebung der Volkssprache (und ihrer literarischen Manifestationen im Volkslied, Sprichwort usw.) als konstitutives Element einer modernen Nation, 2) H.s auf das Endziel menschlicher Vollkommenheit und Humanität ausgerichtete teleologische Geschichtsschau, in der er jedem Volk - unabhängig von Größe und historischer Vergangenheit - eine besondere Rolle zuerkennt.
Für die Führungseliten der noch im Vorstadium der Nationsbildung begriffenen Völker Südosteuropas - vor allem in der Habsburgermonarchie - hatte H.s in Abgrenzung vom etatistischen Nationsbegriff Westeuropas an der Sprach- und Kulturgemeinschaft orientiertes Strukturmodell eine starke Bestätigungsfunktion. Dennoch ist es übertrieben, H.s philosophischem System eine initiatorische Rolle im „Risorgimento-Nationalismus“ der „erwachenden Sprachvölker“ (Eugen Lemberg und seine Schule) zuzuweisen. Die politische und gesamtgesellschaftliche Relevanz der Sprache war vielmehr von den Führungseliten - meist unabhängig von der Kenntnis H.scher Werke - spätestens seit den Reformbestrebungen Josephs II. in Opposition zur staatstragenden deutschen (später in der Osthälfte der Monarchie auch in Opposition zur magyarischen) Nation erkannt worden. In dem einsetzenden Sprach- und Positionskampf wurde H. gern - oft jedoch polemisch - als Zeuge für unterschiedliche Auffassungen zitiert. Aus seinem Modell wurde nur übernommen, was der Bestätigung der jeweiligen Erfahrungen und Interessen diente. Das zeigen deutlich die Unterschiede in den einzelnen Rezeptionsphasen während der ersten fünf Jahrzehnte des 19. Jh.s sowie die Differenzen in der Adaption H.scher Ideen bei den Magyaren auf der einen, bei den Süd- und Westslawen auf der anderen Seite.
In den Bemühungen zur Konstituierung moderner Kulturnationen (bei der Kodifizierung der Schriftsprache bei den West- und Südslawen: Josef Dobrovský, Jernej Bartol Kopitar, Ljudevit Gaj u. a.; der Sprachreform bei den Magyaren: Ferenc Kazinczy, Ferenc Kölcsey u. a.; in der historischen Forschung und Geschichtsphilosophie: Pavol Josef Šafarík, František Palacký, Ferenc Verseghy u. a.; im kulturpolitischen Kampf: Graf Leo Thun bei den Böhmen, die Grafen István Széchenyi und Károly Zay bei den Magyaren; und in der apologetischen slawischen Publizistik: bei den Slowaken Samuel Hojč, Ludwig M. Schuhajda, Ján Čaplović u. a.) werden H.s Theorien argumentativ oder als Anregung verwertet. Dies gilt vor allem für die Protagonisten der slawischen Völker, denen H. im IV. Abschnitt des 16. Buches der „Ideen ...“ in Anlehnung an Schlözer eine glänzende Zukunft in seiner auf Humanität ausgerichteten Geschichtstheorie zugewiesen hatte. Seine euphorischen und die Slawen verherrlichenden Ausführungen fanden gleich nach Erscheinen in der Edition von Paul Stranskýs „Respublica Bojema“ durch den böhmischen Schriftsteller Ignác Cornova (1792) weitere Verbreitung. Drei Jahre später brachte Fortunatus Durych das „Slavenkapitel“ in seiner „Bibliotheca Slavica“ in lateinischer Übersetzung; der tschechische Philologe Josef Dobrovský veröffentlichte es in seinem Sammelwerk „Slavín“ (Ruhmeshalle, 1806); Josef Jungmann reihte es 1813 in tschechischer Übersetzung in die Wiener Zeitschrift „Prvotiny pěkných umění“ (Der Anfang der schönen Künste) ein; der Altertumsforscher und Philologe Šafarík paraphrasierte es in seiner „Geschichte der slawischen Sprache ..(1826); Ján Kollár gab ihm in seinem Sonettenzyklus „Slávy dcera“ (Die Tochter des Ruhms, 1832) dichterische Form; 1835 erschien es in der 33. Nummer der führenden Zeitschrift der kroatischen Nationswerdung, in der „Danica ilirska“, usw. Ihren prägnantesten Niederschlag fanden H.s Ideen über die Slawen (als einer „Nation“), über Sprache, historische Entwicklung, über die Bedeutung des Volkskunstschaffens usw. im wissenschaftlichen Panslawismus Šafaríks und in Kollárs „literarischer Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slavischen Nation“ (1837). Von hier gingen nachhaltige panslawische Impulse zu den geistigen Eliten der übrigen slawischen Völker aus, deren Intensität jedoch im einzelnen umstritten ist.
Auch die Bewegung zur Sammlung von Volksliedern, Sprichwörtern, Märchen usw. war außer vom Ossianismus ebenfalls stark von H. und in der Weiterentwicklung seiner Ideen durch Jacob Grimm geprägt. Das gilt sowohl für die slawischen Völker (vgl. Jernej Bartol Kopitar, František L. Čelakovský, Josef Vlastimil Kamarýt, Vuk Karadžić u. a.) als auch für die Magyaren (Ferenc Kölcsey u. a., s. ferner die zahlreichen Beiträge über H. in der Beilage „Gemeinnützige Blätter“ der „Vereinigten Ofner-Pester Zeitung“, Jg. 1841). H.s Rolle bei der Schaffung eines modernen Kulturaufbaus bei den nichtdeutschen Völkern der Habsburgermonarchie - auf die übrigen südosteuropäischen Völker ist ein stärkerer direkter Einfluß H.s kaum nachzuweisen - muß jedoch immer im Kontext mit autochthonen Strömungen und verschiedenen anderen Anregungen von außen gesehen werden.
Literatur
Murko, Matthias: Deutsche Einflüsse auf die Anfänge der böhmischen Romantik. Graz 1897.
Pukánszky, Béla: Herder hazánkban. Bd 1. Herder és a népies irány. Budapest 1918.
Bittner, Konrad: Herders Geschichtsphilosophie und die Slawen. Reichenberg 1929.
lvanišin, Nikola: J. G. Herder i ilirizam. In: Radovi filoz. Fak., Zadar 2 (1960/61) 196-225.
Sundhaußen, Holm: Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie. München 1973 (mit Bibliographie).