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Ignat’ev, Nikolaj Pavlovic Graf, russischer Diplomat, * St. Petersburg 29.1.1832, † ebd. 3.07.1908, Sohn des Generals und Staatsmannes Pavel Nikolaevic I.
Leben
Der Name I. steht als Synonym für die imperialistische Machtpolitik des Zarenreichs im Südosten Europas. Nikolaus I. war sein Pate, und zeitlebens konnte er seiner wie auch der Gunst Alexanders II. sicher sein. I. erhielt eine militärische Ausbildung, absolvierte das Pagenkorps und die Akademie des Generalstabs, ehe er 1855 zum Flügeladjutanten avancierte. 1856 nahm er als Militärattache am Frieden von Paris teil. Seinen ersten großen Erfolg errang der achtundzwanzigjährige, inzwischen zum Generalmajor aufgestiegene Diplomat mit dem Abschluß des Vertrages von Peking (November 1860), der Rußland durch eine vorteilhafte Grenzziehung die linken Ufer des Amur und des Ussuri und eine günstige Ausgangsposition für seine künftige Fernostpolitik einbrachte. 1861-1864 war er Direktor des Asiatischen Departements im Petersburger Außenministerium. Als ihm 1864 das Amt des Botschafters in Istanbul übertragen wurde, - in den Jahren der Balkankrise der wichtigste diplomatische Auslandsposten -, lag seine Konzeption einer russischen Orientpolitik fest. Er war der Meinung, daß den russischen Großmachtinteressen auf dem Balkan am besten gedient sei, wenn die Schwarzmeerklausel des Pariser Friedens von 1856 aufgehoben und die Herrschaft Petersburgs über die Meerengen hergestellt sei. Dazu müsse Istanbul entweder durch russisches Protektorat oder durch kriegerischen Zugriff in Besitz genommen werden. Die christlichen Balkanvölker müßten von der türkischen Oberherrschaft befreit und unter russischen Schutz und Einfluß gebracht werden. Sie gelte es sodann zu einem umfassenden Verteidigungsbündnis mit der Stoßrichtung gegen Wien und dessen Expansionsbestrebungen auf dem Balkan zusammenzuschließen. Waren diese Voraussetzungen erst einmal erfüllt, so könne die Neuordnung der Balkanhalbinsel im russischen Sinne, so wie sie I. sich vorstellte, vorgenommen werden. Von Anfang an traten also sowohl die österreichfeindliche wie die panslawistische Grundlinie seiner Politik deutlich zutage. I., der als Meister des großen Auftritts, als verschlagen und wenig zuverlässig, aber auch als nüchterner Realpolitiker geschildert wird, bediente sich bei der Verfolgung seiner Ziele selnder Taktiken. Jahrelang nannten ihn russische Kollegen wegen seines Einflusses auf Sultan Abdülaziz (*j* 1876) „Vizesultan“. So gab er - im Interesse der bulgarischen nationalkirchlichen Bestrebungen und damit der bulgarischen Nationalbewegung allgemein - Abdülaziz Rückendeckung, als dieser im griechisch-bulgarischen Kirchenstreit 1870 das Dekret über die Errichtung einer selbständigen Kirchenverwaltung für die von Bulgaren bewohnten Diözesen im Osmanischen Reich erließ. Sicherlich nicht zufällig deckten sich die Grenzen des „bulgarischen Exarchats“ fast genau mit den Grenzen jenes Großbulgariens, welches Rußland 1878 im Frieden von San Stefano den Vorrang auf dem Balkan sichern sollte. 1875, als mit dem Aufstand in Bosnien und der Herzegowina gegen die Türken die Orient-Krise zum offenen Ausbruch kam, sprach er sich gegen eine direkte Intervention Rußlands zugunsten der unterdrückten Balkanslawen aus. Im September 1876, nach der Kriegserklärung Serbiens und Montenegros an die Pforte, versuchte er der bewaffneten Auseinandersetzung, von der die Petersburger Regierung auf seine Initiative abgeraten hatte, mit dem Vorschlag ein Ende zu bereiten, die türkischen Truppen und Beamten aus den aufständischen Provinzen abzuziehen und diese als Gebiete mit voller Selbstverwaltung im Staatsverband des Osmanischen Reiches zu belassen. Dieser Vorschlag fand die Zustimmung Londons, das die Integrität der Meerengen gefährdet sah, wenn sich Rußland durch die Unterstützung der Insurgenten auf dem Balkan ausbreitete. Die Verständigung seiner Regierung mit der Donaumonarchie, die als Nachbar Bosniens, Serbiens und Montenegros an den Vorgängen auf dem Balkan unmittelbar interessiert war und ihre eigenen Ziele verfolgte (Geheimabkommen von Reichstadt, Juli 1876; Konvention von Budapest, Januar 1877), veranlaßten ihn, von Alexander II. und dessen Außenminister Gorcakov eine selbständige russische Balkanpolitik zu fordern, losgelöst von Rücksichten auf Österreich-Ungarn und unter Einschluß der Kriegsgefahr mit der Pforte. Er mißgönnte Wien jeden Erfolg auf südosteuropäischem Feld. Als die nationalistische panslawistische Bewegung immer lautstärker nach der Inbesitznahme Konstantinopels, dem „historischen Ziel“, verlangte, reiste I. in die Signatarstaaten des Pariser Friedens, um deren Haltung in dem bevorstehenden Waffengang zu erkunden (März 1877). Das Unternehmen mißlang. Vor allem England lehnte die Kooperation mit Rußland ab. Damit war die Hoffnung auf die Annahme des von I. erarbeiteten Londoner Protokolls, in dem Petersburg die Türken zu Reformen zugunsten der slawischen Nationalbewegundie nicht immer mit denen seiner Regierung identisch waren - wechgen auf forderte, endgültig zunichte. Im April 1877 erklärte das Zarenreich der Pforte den Krieg. Mit der Ausarbeitung des Friedensvertrages, der wegen des englisch-österreichischen Einspruchs gegen einen Separatvertrag nur ein Präliminarfrieden sein konnte, wurde I. beauftragt. Er legte Gorcakov zwei Entwürfe vor, deren einer die Bildung eines großbulgarischen Vasallenstaats und umfangreiche Gebietserweiterungen für Serbien und Montenegro anregte, während der zweite - der Minimalplan - sich mit der Ausdehnung Bulgariens bis an das Ägäische Meer zufriedengeben wollte. Der eine wie der andere Entwurf garantierten Rußlands Vormachtstellung auf dem Balkan. Zudem schlug I. zur Sicherung der russischen Ansprüche an den Meerengen ein Einvernehmen Rußlands und des Osmanischen Reiches vor, die beiden Wasserstraßen in Kriegszeiten für Kriegsschiffe aller Länder mit Ausnahme der Randstaaten des Schwarzen Meeres zu sperren. Ein Verteidigungspakt sollte das Bündnis beider Länder besiegeln. Weil England und Österreich-Ungarn darauf verwiesen, daß die Entwürfe geeignet seien, die Spannungen zu verschärfen, wurde I. von Gorcakov bestimmt, die Meerengenfrage aus dem Vertragswerk auszuklammern. Den Frieden von San Stefano (3.03.1878) Unterzeichnete er mit dem Ausdruck des Bedauerns. Sein Ziel einer territorialen und politischen Neuordnung des Balkans hatte er nicht erreicht. Immerhin billigte der zum Ausgleich der Spannungen unter den Großmächten einberufene Berliner Kongreß (Juni/Juli 1878) die Bildung des halbsouveränen Fürstentums Bulgarien und die Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens. Ls diplomatische Karriere war mit dem Frieden von San Stefano beendet. Am Berliner Kongreß nahm er schon nicht mehr teil. Von Mai 1881 bis Juni 1882 Innenminister, steuerte er als Nachfolger des liberalen Michail Tarielovic Loris-Melikov einen reaktionären Kurs. Er, den man einmal den „bösen Genius Rußlands“ genannt hat, starb 1908 als Mitglied des Staatsrats.
Literatur
Ignat'ev, N. P.: Zapiski. In: Istoričeskij Vestnik S.-Peterburg (Januar bis Juli 1914) 135- 137.
Kiril, patriarch bŭlgarski: Graf N. P. Ignatiev i bŭlgarskijat cŭrkoven vŭpros. Bd 1. Sofija 1958.
Hünigen, Gisela: Nikolaj Pavlovič Ignat'ev und die russische Balkanpolitik 1875-1878. Göttingen 1968.
Meininger, Thomas A.: Ignatiev and the Establishment of the Bulgarian Exarchate 1864-1872. Madison 1970.
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