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Marczali (bis 1875 Morgenstern), Henrik, ungarischer Historiker, * Marcali (Komitat Somogy) 03.04.1856, † Budapest 21.07.1940, aus einer Rabbifamilie.
Leben
M. besuchte das Gymnasium in Csurgó. Als fünfzehnjähriger war er bereits Student der philosophischen Fakultät der Universität von Budapest. 1875 promovierte er zum Dr. phil. Als junger Mann geriet er unter den Einfluß von im kulturpolitischen Bereich führenden Persönlichkeiten, die bedingungslose Anhänger des österreichisch-ungarischen Ausgleichs von 1867 waren, was sich auch auf seine eigene Geschichtsauffassung auswirkte. Er wurde Lehrer der Budapester Lehrerbildungsanstalt, dann fuhr er mit einem mehrjährigen westeuropäischen Stipendium zuerst nach Berlin, später nach Paris und London, dann wieder nach Berlin. Er besuchte die Seminare von Theodor Mommsen, Karl Wilhelm Nitzsch und Wilhelm Watten bach. Nitzsch und Georg Waitz - dessen engerem Kreis er ein Jahr lang angehörte - beeinflußten ihn stark. Letzterer unterstützte seine ersten, in deutschen Zeitschriften (Neues Archiv und Forschungen zur deutschen Geschichte) erschienenen Aufsätze. M. besuchte in Paris die Vorlesungen der École Nationale des Chartes und École des Hautes Études, in Oxford die verfassungs- und religionsgeschichtlichen Vorlesungen von William Stubbs. 1878 wurde er Privatdozent, 1895 ordentlicher Professor für ungarische Geschichte an der Universität von Budapest. 1893 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Nach 1919 wurde er beurlaubt, 1923 mit Abfertigung in Pension geschickt. Bis zu seinem Tode lebte er unter sehr schweren finanziellen Verhältnissen. In M.s frühmittelalterlichen philologischen Aufsätzen sowie in seinen Synthesen ist der methodische Einfluß der deutschen Geschichtsschreibung fühlbar. Mit dem Mittelalter beschäftigen sich die Werke „A magyar történet kútfői az Árpádok korában“ (1880; deutsche Ausgabe: Ungarns Geschichtsquellen im Zeitalter der Arpaden, 1882), „Magyarország a királyság megalapításáig“ (Ungarn bis zur Gründung des Königreichs, in: A magyar nemzet története [Geschichte der ungarischen Nation], redigiert von Sándor Szilágyi, Bd 1, 1895) und „Magyarország története az Árpádok korában (Geschichte Ungarns im Zeitalter der Arpaden, ebenda, Bd 2, 1896). M.s Werke, die das 18. Jh. behandeln, sind auch heute zu benützen: „Magyarország története II. József korában“ (Geschichte Ungarns zur Zeit Josefs II., 3 Bde, 1881/ 88), „Mária Terézia“ (Maria Theresia, 1891), „Magyarország története III. Károlytól a Bécsi congreszusig 1711-1815“ (Geschichte Ungarns von Karl III. bis zum Wiener Kongreß, in: A magyar nemzet története, Bd 8, 1898), „Az 1790/91-diki országgyűlés“ (Der Landtag von 1790/91, 2 Bde, 1907), „Hungary ln the Eighteenth Century“ (Cambridge 1910, Reprint New York 1971) und „Ungarische Verfassungsgeschichte“ (Tübingen 1910). M. vertrat gegenüber der feudal-adligen Auffassung, die sich in der ungarischen Geschichtsschreibung stark hielt, eine bürgerlich-liberale Einstellung. In seinen Werken bietet er über die in seiner Zeit traditionelle politische Geschichte hinaus eine ausführliche Wirtschafts- und Handelsgeschichte. In der Behandlung der ungarischen Geschichte hielt er den österreichisch-ungarischen Ausgleich für den eigentlichen Endpunkt der ungarischen historischen Entwicklung. Nach 1919 folgte ein großer Bruch in seiner Laufbahn als Geschichtsschreiber - er schrieb nur noch publizistische, historisch oberflächliche Werke. Dies sowie die Tatsache, daß er sich als „alter Liberaler“ an die Staatsräson der „christlich-konservativen“ Wissenschaftspolitik des Horthy-Regimes nicht anpaßte, trug zu seiner Zurücksetzung bei. M. war einer der Universitätsprofessoren, die auf die folgende Historikergeneration eine große Wirkung ausübten.
Literatur
Tóth, Zoltán: Marczali Henrik 1.tag emlékezete. Budapest 1947. = A Magyar Tudományos Akadémia elhunyt tagjai fölött tartott emlékbeszédek. 24/8.
Lederer, Emma: Marczali Henrik helye a magyar polgári történettudományban. In: Századok 96 (1962) 440-469.
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