Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Tisza, Kálmán
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Tisza, Kálmán

Tisza, Kálmán (Koloman), ungarischer Staatsmann, * Geszt (Komitat Bihar) 16.12.1830, † Budapest 23.03.1902, ein aus dem protestantischen mittleren Adel Ostungarns stammender Großgrundbesitzer, Sohn des Biharer Komitatsadministrators Lajos T., Vater des Grafen István T.

Leben

1848 war T. in dem von Baron József Eötvös geleiteten Kultusministerium der Regierung des Grafen Lajos Batthyány als Kozeptsadjunkt tätig. Er folgte dem Landesverteidigungsausschuß auch nach Debrecen. Nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes ging T. für eineinhalb Jahre ins Ausland und durchreiste Belgien und England. Seine politische Karriere begann 1859, als er in seiner damaligen Funktion als Oberkurator der reformierten Superintendenz jenseits der Theiß gegen das von Wien aufoktroyierte Protestantenpatent vom 1. September 1859 heftigst opponierte. Dieser Kampf gegen das die Autonomie der Protestanten verletzende Patent begründete T.s Popularität vorerst auf Komitatsebene. Im Landtag von 1861 war T. dann bereits Abgeordneter und Vizepräsident des Abgeordnetenhauses. Nach dem Selbstmord seines Onkels, des Grafen László Teleki, wurde er einer der Führer der Beschlußpartei.
T. erfreute sich dank seines Reichtums und seiner Ehe mit der Gräfin Ilona Degenfeld-Schonburg höchsten Ansehens und größten Respekts im Kreise der großgrundbesitzenden Aristokratie; andere wiederum schätzten ihn wegen seines von ihm zur Schau getragenen Liberalismus sehr hoch ein. Vom Landtag des Jahres 1865 an war T. - vorerst gemeinsam mit Kálmán Ghiczy - für ein Jahrzehnt der Führer des Linkszentrums, der ehemaligen Beschlußpartei. Nach dem Ausgleich von 1867 stand das Linkszentrum der im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügenden Regierungspartei Ferenc Deáks als stärkste Oppositionspartei gegenüber. Das 1868 in den Biharer Punkten festgelegte Oppositionsprogramm forderte unter anderem die Abschaffung der Delegationen und der gemeinsamen österreichisch-ungarischen Ministerien, die Schaffung eines ungarischen Heeres, einer selbständigen Nationalbank und eines selbständigen Zollgebietes. 1875 ließ T. dieses Programm jedoch fallen; er wurde Führer der aus der Fusion zwischen der schon stark geschwächten Deäk-Partei und dem Linkszentrum hervorgegangenen Liberalen Partei (1.03.1875), welche nun drei Jahrzehnte hindurch ohne Unterbrechung das Land regierte. T. war dann vom März bis Oktober 1875 Innenminister im Kabinett Baron Béla Wenckheims. Am 20. Oktober 1875 erhielt er das Amt des Ministerpräsidenten, das er schließlich bis 13. März 1890 innehaben sollte. Vom Regierungsantritt an bis zum Februar 1887 war T. zugleich auch Innenminister. T. verstand es aufgrund seiner hervorragenden taktischen Fähigkeiten von Anfang an, die in vieler Hinsicht uneinheitliche Liberale Partei - in ihr konzentrierte sich die Mehrheit der Aristokratie und der adeligen Groß- und mittleren Grundbesitzer sowie das Großkapital - zu „vereinheitlichen“ und zu einem ihm jederzeit zu Diensten stehenden Werkzeug zu machen. Mit den von ihm abhängigen Abgeordneten und sonstigen Anhängern, den sog. Mamelucken, sicherte er schließlich den Fortbestand der Einheit der Partei. Das war für den Nationalitätenstaat Ungarn von erheblicher Bedeutung. Denn unter T.s Regierung diente das System der liberalen Einparteienherrschaft der parlamentarischen Sicherung der magyarischen Hegemonie. Das Parlament wiederum wurde den Interessen der ungarischen politischen Führungsschicht bereits durch das an den Besitz gebundene und daher sehr beschränkte Wahlrecht sowie durch ein ausgeklügeltes Wahlsystem gefügig gemacht. Damit wurden sowohl die Nationalitäten wie auch der größte Teil der magyarischen Opposition aus dem Verfassungsleben ausgeschlossen.
T.s Ministerpräsidentschaft war gekennzeichnet durch das Festhalten an den 1867 geschaffenen Grundlagen des Dualismus. In der Aufrechterhaltung des Ausgleichs sah T. die optimale Sicherung der Großmachtstellung Österreich-Ungarns. Diese seine Haltung war mit ein Grund, warum er solange das Vertrauen des Königs besaß und deshalb länger als alle seine Vorgänger und Nachfolger Ministerpräsident war. So fällt in T.s Regierungszeit die Festigung der dualistischen Staatseinrichtungen und die Herausbildung ihrer endgültigen Formen. Die Tisza-Ära sollte so zur Ruheperiode des dualistischen Zeitalters werden: allerdings erst Ende der 1870er Jahre, da für die Jahre 1875-1878 von einer durch die zweiten Ausgleichsverhandlungen verursachten „Krise in der Festigung des Dualismus“ gesprochen werden muß. Während des „Ausgleichskrieges“ kam es übrigens zur Demission des Kabinetts T. (Anfang Februar 1877), einige Wochen später aber zur neuerlichen Übernahme der Regierung durch T.
Der schließlich 1878 zustande gekommene wirtschaftliche Ausgleich mit Österreich war in breiten Kreisen der ungarischen Öffentlichkeit zumindest ebenso unpopulär wie dann die Okkupation Bosniens und der Herzegowina, die man wegen der damit verbundenen Zunahme der slawischen Bevölkerung der Monarchie fürchtete. Doch aus realpolitischen Gründen akzeptierte schließlich auch T. die Okkupation. Im Zuge der Finanzierungsfrage dieses Unternehmens kam es auch zur Abdankung des gesamten T.-Kabinetts (September 1878). T. gelang es jedoch, am Ruder zu bleiben; am 9. Dezember 1878 ernannte ihn der König abermals zum Ministerpräsidenten. Innenpolitisch war die Tisza-Ära gekennzeichnet durch eine rege Reformtätigkeit und Gesetzgebung auf verschiedensten Gebieten. Dies führte zu einer Konsolidierung des ungarischen Staatsapparates sowie zum weiteren Ausbau des Rechtssystems. Viele neue Gesetze dienten allerdings den Interessen der bestehenden politischen, nationalen und gesellschaftlichen Ordnung. Der Aufbau einer modernen Verwaltung manifestiert sich in den 1876 gebildeten Verwaltungsausschüssen in den Munizipien sowie im 1886 entstandenen Munizipal- bzw. Gemeindegesetz. Eine so umfassende Verwaltungsreform wie unter T. hat es dann bis 1918 nicht mehr gegeben. Im Jahre 1881 erfolgte die Neugestaltung der öffentlichen Sicherheitsorgane durch die Verstaatlichung der hauptstädtischen Polizei sowie die Einführung der Gendarmerie in den Komitaten. An Wirtschaftsgesetzen wären das Handelsgesetz von 1875 sowie das Wechselgesetz aus dem Jahre 1876 zu nennen. In besonderem Maße diente das 1876 entstandene Gesindegesetz den Interessen des Großgrundbesitzes und der herrschenden politischen Schicht. 1878 wurde durch die Schaffung des Strafgesetzbuches (Codex Csemegi) das neue Strafrecht eingeführt.
In der Nationalitätenpolitik war T. ein Mann der starken Hand. Die anfängliche Unterdrückung der nichtmagyarischen Nationalitäten (Willkürmaßnahmen gegen Slowaken, Serben und Siebenbürger Sachsen) sollte bald in offene Magyarisierungsbestrebungen münden. Beispiele hierfür sind die Gründung der Kulturvereine durch magyarisch-nationalistische Kreise sowie die Schulgesetze Ágoston Treforts (Volksschulgesetz von 1879, Mittelschulgesetz von 1883).
1889 bewegten zwei Fragenkomplexe das ungarische politische Leben: die Benennung der gemeinsamen Armee (hier erfolgte schließlich eine Umbennenung der gemeinsamen kaiserlich-königlichen Armee und Kriegsmarine in „kaiserlich und  königlich“) und die neue Wehrgesetzgebung. Die Diskussion um das Wehrgesetz sollte zu einer der wesentlichen Ursachen für T.s Sturz als Ministerpräsident werden. Der unmittelbare Anlaß für T.s endgültigen Rücktritt im März 1890 war dann die Frage der ungarischen Staatsbürgerschaft Lajos Kossuths. Als angesehener Führer der Regierungspartei nahm T. auch nach der Abdankung seiner Regierung aktiv am politischen Geschehen teil.
Wenn auch zur Zeit der Ministerpräsidentschaft T.s in vieler Hinsicht das „quieta non movere“ - etwa vergleichbar der Politik des „Fortwursteins“ von Taaffe - zur Losung des ungarischen Regierungsprinzips wurde, so muß T. vor allem aufgrund seiner Reformtätigkeit und der damit im Zusammenhang stehenden Entwicklung des ganzen ungarischen Rechts- und Institutionensystems zu den Begründern des neuen, modernen Ungarn gerechnet werden.

Literatur

Tisza, Kálmán: Parlamenti felelős kormány és megyei rendszer. Pest 1865.
Gratz, Gusztáv: Tisza Kálmán. Budapest 1902.
Vécsey, Tamás: Tisza Kálmán. Politikai és publicisztikai tanulmány. Celldömölk 1931.
M. Kondor, Viktória: Az 1875-ös pártfúzió. Budapest 1959.
Szász, Zoltán: A dualista rendszer nyugalmi időszaka (1875-1890). In: Magyarország története 1849-1918. Az abszolutizmus és a dualizmus kora. Szerk. Hanák Péter, Erényi Tibor, Szabad György. Budapest 1972, 217-252.
Gottas, Friedrich: Ungarn im Zeitalter des Hochliberalismus. Studien zur Tisza-Ära (1875-1890). Wien 1976.

Verfasser

Friedrich Gottas (GND: 105731153)


GND: 117628093

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Empfohlene Zitierweise: Friedrich Gottas, Tisza, Kálmán, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 322-325 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1786, abgerufen am: (Abrufdatum)

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