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Radić, Stjepan, kroatischer Politiker, * Trebarjevo Desno 11.06.1871, † Zagreb 08.08.1928.
Leben
R. entstammte einer mittellosen kinderreichen Bauernfamilie aus Trebarjevo a. d. Save (nördlich Sisak), seine Eltern (Imbro und Jana R.) waren Analphabeten. Er besuchte die Grundschule in Martinska Ves sowie die Gymnasien in Zagreb und Karlstadt. Nach der Matura (1891) inskribierte er an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Zagreb. Schon als Schüler war er wegen seines politischen Engagements gegen die „Madjaronen“ mit den Behörden in Konflikt geraten. Infolge seiner öffentlichen Angriffe auf die kroatenfeindliche Politik des Bans Khuen-Héderváry wurde er 1893 zu vier Monaten Haft verurteilt und von der Universität relegiert. 1894 setzte er seine Studien in Prag fort, wo er nach einem Zusammenstoß mit der Polizei ebenfalls die Universität verlassen mußte und ein Studienverbot für das gesamte Cisleithanien erhielt. Vorübergehend studierte er nun in Budapest, kehrte aber im Herbst 1895 nach Zagreb zurück. Dort gehörte er zu den Organisatoren einer Demonstration auf dem Jelačić-Platz am 16. Oktober, in deren Verlauf die ungarische Fahne öffentlich verbrannt wurde, was ihm weitere sechs Monate Haft eintrug. R., der bereits durch die südslawischen Gebiete sowie nach Moskau und München gereist war, begab sich nach der Haftentlassung zum zweiten Mal nach Rußland, wechselte ein halbes Jahr später nach Prag über, wo er im Januar 1897 zusammen mit anderen vom „kritischen Realismus“ Tomáš Garrigue Masaryks beeinflußten kroatischen Studenten die Zeitschrift „Hrvatska misao“ (Kroatischer Gedanke) ins Leben rief, und verlegte dann seinen Wohnort nach Paris, wo er von 1897 bis 1899 seine Ausbildung an der École libre des Sciences politiques fortsetzte und mit der Diplomarbeit „La Croatie actuelle et les Slaves du Sud“ abschloß. Anschließend lebte er als Journalist in Prag und Semlin, bis er Anfang 1902 zum Sekretär der Landtagsfraktion der Vereinigten Opposition (Hrvatska oporba, bestehend aus der „Rechtspartei“ und der „Unabhängigen Nationalpartei“) gewählt wurde und endgültig nach Zagreb zurückkehrte. Im Herbst 1903 übernahm er die neubegründete „Hrvatska misao“ als Redakteur und Herausgeber (bis 1906). Zuvor schon war er wegen seines Eintretens gegen die antiserbischen Demonstrationen in Zagreb am 2. und 3. September 1902 erneut zu mehreren Monaten Haft verurteilt worden. Aus Enttäuschung über die volksferne Politik der kroatischen Oppositionsparteien (bereits 1892 hatte er deshalb einen Zusammenstoß mit dem Führer der „Rechtspartei“, Ante Starčević, gehabt) forderte R. immer eindringlicher die Einbeziehung der kroatischen Bauernmassen in das politische Leben (s. seine Schrift „Najjača stranka u Hrvatskoj“ [Die stärkste Partei in Kroatien], Rijeka 1902). Da er sich mit seinem „populistischen“ Konzept bei den Parteiführern nicht durchsetzen konnte, gründete er Ende 1904 zusammen mit seinem Bruder Antun die „Kroatische Volks- und Bauernpartei“ (Hrvatska pučka seljačka stranka, HPSS), die in ihrem am 22. Dezember angenommenen Programm den ungarischkroatischen Ausgleich von 1868 ablehnte und für eine enge Zusammenarbeit der slawischen Völker in der Monarchie mit dem Ziel der Umwandlung Österreich-Ungarns in eine Donauföderation eintrat (vgl. dazu R.s Abhandlung „Slavenska politika u Habsburškoj monarkiji“ [Die slawische Politik in der Habsburger Monarchie], Zagreb 1906, nach dem tschechischen Original von 1901). Getreu seiner „neoslawischen“ Linie nahm R. nicht nur an dem Slawenkongreß von 1908 in Prag teil und erhoffte sich Unterstützung seiner Ziele von Rußland, sondern begrüßte auch die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich. Die Brüder R. entfalteten unter den kroatischen Bauern eine breite kulturelle und soziale Aufklärertätigkeit, doch konnte die Partei bei den Wahlen von 1906 infolge des eingeschränkten Stimmrechts der Bevölkerung keinen Abgeordnetensitz erringen. Erst 1908 gewann sie drei Mandate (davon zwei für R.), und 1910 (nach Ausweitung des Wahlrechts) entsandte sie neun Delegierte in den Sabor (deren Zahl sich 1913 trotz nur mäßiger Stimmenverluste wieder auf drei reduzierte). Die HPSS arbeitete zunächst eng mit der „Kroatisch-Serbischen Koalition“ und ab 1913 mit der „Rechtspartei“ zusammen. Während des Ersten Weltkriegs betonte R. seine Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus und forderte in Opposition zu den regierenden Kreisen in Budapest und ihrem dualistischen Programm die Vereinigung der kroatischen Länder im Rahmen der (umzugestaltenden) „austroslawischen Großmacht“. Erst Mitte 1918 distanzierte er sich von der „Rechtspartei“ und sagte sich vom austroslawischen Konzept los. Am 5. Oktober 1918 beteiligte sich die HPSS am Gründungskongreß des Nationalrates der Slowenen, Kroaten und Serben in Zagreb. R. selbst wurde Mitglied des geschäftsführenden und des späteren Zentralausschusses. Auf der letzten Sitzung des Sabor am 29. Oktober stimmte er mit den übrigen Delegierten für den Abbruch der staatsrechtlichen Beziehungen zu Ungarn und Österreich und sprach sich für die Vereinigung aller südslawischen Teile der Habsburgermonarchie zu einem unabhängigen republikanischen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben aus. Ein Zusammenschluß mit dem Königreich Serbien sollte dagegen erst im Rahmen eines Bundesstaates mit einem Triumvirat (bestehend aus dem serbischen Regenten, dem kroatischen Ban und dem Vorsitzenden des Slowenischen Nationalrates) erfolgen. Eindringlich warnte er Svetozar Pribićević vor einem Zusammenschluß mit Serbien ohne vorherige Klärung der staatsrechtlichen Stellung Kroatiens. Da er am 26. November wegen seiner kritischen Ausfälle aus dem Nationalrat ausgeschlossen wurde, reiste er nach Prag und kehrte erst am 10. Dezember 1918 zurück, als in Belgrad bereits die Vereinigung Serbiens mit dem Staat der Slowenen, Kroaten und Serben proklamiert worden war. So wie R. bis Ende des Ersten Weltkriegs die ungarische Politik in Kroatien bekämpft hatte, so wandte er sich nun gegen die von der „Radikalen Partei“ und ihren Koalitionspartnern ausgehenden Zentralisierungsbestrebungen. Dem nationalen Unitarismus großserbischer oder „jugoslawischer“ Prägung (Pribićević) setzte er seine Forderung nach Errichtung einer kroatischen Bauernrepublik innerhalb eines föderativen Jugoslawien entgegen. Um dem Anrecht der Kroaten auf Selbstbestimmung nachzuhelfen, wandte er sich an die französische Militärmission, woraufhin ihn Innenminister Pribićević Ende März 1919 für elf Monate internieren ließ. Ein von R. redigierter Appell an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson mit rd. 160000 Unterschriften blieb ohne Erfolg. Anfang August 1920 wurde R. durch Gerichtsurteil zu weiteren zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, jedoch anläßlich der Novemberwahlen zur Verfassunggebenden Versammlung begnadigt. Die wachsende Popularität des kroatischen Bauernführers spiegelte sich in den großen Stimmgewinnen der Partei und der Erringung von 50 Mandaten wider. Im Dezember 1920 wurde die HPSS in „Kroatische Republikanische Bauernpartei“ (Hrvatska republikanska seljačka stranka, HRSS) umbenannt. Ihre ins Belgrader Parlament gewählten Mitglieder entschlossen sich zur Abstinenz und gründeten eine „kroatische Volksvertretung“, die am 26. Juni 1921 einen eigenen Verfassungsentwurf (Nacrt Ustava) veröffentlichte, der sich entscheidend von der am 28. Juni verabschiedeten zentralistischen Vidovdan-Verfassung unterschied und zur neuen „Grundlehre“, zum revidierten Parteiprogramm der HRSS (Temeljni nauk ili program HRSS) wurde. In den folgenden Jahren wechselte R. wiederholt seine Taktik: Zusammen mit der „Kroatischen Gemeinschaft“ und der „Rechtspartei“ gründete er den oppositionellen „Kroatischen Block“. Nach dem Erfolg der HRSS bei den Märzwahlen 1923 (69 Mandate und damit zweitstärkste Partei im Lande) kam es mit der „Slowenischen Volkspartei“ (Slovenska ljudska stranka, SLS) und der „Jugoslawischen Muslimischen Organisation“ (Jugoslovenska muslimanska organizacija, JMO) zur Konstituierung des „Föderalistischen Blocks“. Zwischen diesem und der „Radikalen Partei“ wurde am 13. April 1923 eine Vereinbarung (Markov protokol) unterzeichnet, in der sich die HRSS zur Fortführung der parlamentarischen Abstinenz verpflichtete (und damit den Fortbestand der homogenen Regierung Pašić ermöglichte), während die Radikalen die in der Verfassung vorgesehene administrative Neugliederung des Landes („Parzellierung Kroatiens“) auszusetzen versprachen. Dennoch kam es schon bald wieder zur Verschärfung des politischen Klimas. Um neuen Verfolgungen (nach Aberkennung der parlamentarischen Immunität) zu entgehen, begab sich R. im Sommer 1923 ins Ausland, wo er ohne sichtbaren Erfolg um Unterstützung der kroatischen Forderungen warb. Während seines Aufenthalts in Moskau (03.06.- 01.08.1924) stimmte er dem Beitritt der HRSS zur Grünen (Bauern-)Internationale zu. Nach der von der HRSS erzwungenen Bildung der Regierung Davidović (Demokraten) kehrte R. nach Zagreb zurück und bemühte sich um eine Verständigung mit dem neuen Kabinettschef. Trotz großer Zugeständnisse R.s (u.a. wurde die Abstinenzpolitik aufgegeben) scheiterte eine Vereinbarung an dem durch die rednerischen Attacken R.s ausgelösten Widerstand König Alexanders, und Davidović trat zurück. Die neue Regierung Pašić-Pribićević leitete wegen des Beitritts der HRSS zur Grünen Internationale eine Verhaftungswelle gegen R. und seine Mitarbeiter ein. Dessen ungeachtet konnte die Partei bei den Wahlen am 8. Februar 1925 einen weiteren Stimmenzuwachs (jedoch verbunden mit dem Verlust zweier Mandate) verzeichnen. R. änderte nun seine Taktik grundlegend. Im Auftrag des inhaftierten Parteiführers gab sein Neffe Pavle R. am 27. März 1925 in der Skupština eine Erklärung über die Anerkennung der Monarchie und der zentralistischen Vidovdan-Verfassung ab. Die Partei wurde in „Kroatische Bauernpartei“ (Hrvatska seljačka stranka, HSS) umbenannt. Nach weiteren Vorgesprächen zwischen R. und Vertretern der „Radikalen Partei“ wurde am 14. Juli ein Verständigungsakt unterzeichnet. Pribićević und seine Anhänger aus der „Selbständigen Demokratischen Partei“ (Samostalna demokratska stranka, SDS) wurden durch vier Minister der HSS (für Agrarreform, Post und Telefunken, Handel und Industrie sowie Forsten und Bergbau) ersetzt. R. wurde aus der Haft entlassen und der Prozeß gegen ihn eingestellt. Im November 1925 trat er als Kultusminister selbst in die Regierung ein. Die tiefgreifenden politischen und verfassungsrechtlichen Divergenzen zwischen den Radikalen und der HSS konnten jedoch durch das Regierungsbündnis nicht ausgeräumt werden. Nach heftiger wechselseitiger Kritik schied R. im April 1926 aus der Regierung aus, gefolgt von seinen Parteikollegen im Januar des folgenden Jahres. Die Enttäuschung der kroatischen Wähler über die wenig erfolgreiche Politik der HSS in der Regierung und das Ausbleiben eines serbisch-kroatischen Kompromisses schlug sich im Wahlergebnis vom September 1927 nieder. Die Partei verlor 178000 Stimmen und sechs Mandate. R. versuchte zunächst, durch die Bildung eines „Demokratischen Blocks“ (aus HSS, SDS, Demokratischer Partei und serbischer Landarbeiterpartei) eine breite Oppositionsbasis zu schaffen. Nachdem dies mißlungen war, verständigte er sich mit Pribićević über die Bildung einer oppositionellen Koalition von HSS und SDS. Alle Versuche, die beiden Parteien wieder zu entzweien, sind in der Folgezeit gescheitert. Die Einwohner der historischen kroatischen Landesteile - Kroaten und Serben - blieben parteipolitisch geeint. Zwar erhielt R. im Februar 1928 von König Alexander das Mandat zur Bildung einer neuen Regierung, doch führten die Verhandlungen mit den Radikalen zu keinem befriedigenden Ergebnis, so daß R. den Auftrag zurückgab. Die von HSS und SDS gemeinsam betriebene Obstruktionspolitik und die von ihnen geforderte Verfassungsrevision zugunsten der kroatischen Forderungen verschärfte die ohnehin gespannte innenpolitische Atmosphäre. Am 20. Juni 1928 verübte das Mitglied der „Radikalen Partei“ Puniša Račić in der Skupština ein Attentat, durch das R. schwer verletzt, sein Neffe Pavle (1880-1928) und der HSS-Abgeordnete Djuro Basariček (1884-1928) getötet wurden. R. erlag am 8. August seinen Verletzungen. Die Hintergründe des Anschlags sind ungeklärt, Anzeichen deuten jedoch darauf hin, daß einflußreiche Kreise am Hof bei Vorbereitung und Durchführung der Tat beteiligt waren. R„ der nahezu zehn Jahre lang die Mehrheit der kroatischen Wähler repräsentierte und dessen Name eng mit der „kroatischen Frage“ im Zwischenkriegsjugoslawien und der Formulierung einer sozialutopischen pazifistischen Bauernideologie verknüpft ist, hat eine Fülle von Schriften hinterlassen. Eine Gesamtausgabe existiert bislang nicht. Die vorläufig letzte Auswahl aus seinen Schriften und Reden hat Zvonimir Kulundžić besorgt (Politički spisi. Autobiografija-članci-govori-rasprave. Zagreb 1971). Die Ausgabe enthält eine Bibliographie von R.s Monographien (S. 563-582). R.s Korrespondenz liegt in einer Edition von Bogdan Krizman vor (Korespondencija Stjepana Radića. 2 Bde. Zagreb 1971/73). Ergänzend dazu hat Mira Kolar-Dimitrijević den Schriftwechsel zwischen R. und der Grünen Internationale von 1924 ediert (Prepiska izmedju Stjepana Radića i Seljačke internacionale u Moskvi 1924. godine. In: Časopis za suvremenu povijest 4 (1972) 1, 148-164).
Literatur
Marjanović, Milan: Stjepan Radić. Beograd 1938.
Horvat, Josip: Politička povijest Hrvatske 1918-1929. Zagreb 1938.
Preradović, Peter: Die Kroaten und ihre Bauernbewegung. Wien, Leipzig 1940.
Krizman, Bogdan: Stjepan Radić 1918. godine. In: Hist. Pregl. 5 (1959) 266-295.
Kulundžić, Zvonimir: Atentat na Stjepana Radića. Zagreb 1967.
Krizman, Bogdan: Stjepan Radić na Pariškoj političkoj školi (1897-1899). In: Naše teme (1971) 6, 1072-1090.
Ders.: Plan Stjepana Radića o preuredjenju Habsburške monarhije. In: Istorija XX veka 12 (1972) 31-82.
Ders.: Osnivanje Hrvatske Pučke seljačke stranke (1904-1905). In: Radovi Instituta za hrvatsku povijest 2 (1972) 105-179.
Ders.: Stjepan Radić. Život, misao, delo. In: Korespondencija Stjepana Radića. Bd 1. Zagreb 1972, 25-70; Bd 2. Zagreb 1973, 33-119.
Jovanović, Nadežda: Politički sukobi u Jugoslaviji 1925-1928. Beograd 1974.
Moritsch, Andreas: Die Bauernparteien bei den Kroaten, Serben und Slowenen. In: Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert. Stuttgart, New York 1977, 359-402. (Eine Auswahlbibliographie der Artikel über Radić findet sich in seinen „Politički spisi“, Zagreb 1971, 583-608).
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