Štúr, L’udovít, slowakischer Denker, Publizist und Politiker, * Uhrovec (Zayugróc, Komitat Trentschin) 29.10.1815, † Modern (Modra, Komitat Preßburg) 12.01.1856, zweites der fünf Kinder des Dorfschullehrers Samuel Št.
Leben
Št. verbrachte seine Kindheit in dem streng evangelisch-pietistischen Milieu seiner national bewußten Familie. Zwölfjährig ging er ans Gymnasium nach Raab (Győr), um Ungarisch und Deutsch zu lernen. Der dort wirkende Professor Leopold Pec machte den jungen Št. mit dem Gedankengut von Josef Dobrovský, Ján Kollár und Pavel Jozef Šafárik bekannt. Im Jahre 1829 kam Št. nach Preßburg (Bratislava), um das Lyzeum (Akademie) zu besuchen. Dem dortigen Studentenverein „Gesellschaft für tschechisch-slowakische Sprache und Literatur“ beigetreten, wurde er zum Geschäftsführer derselben (1835-1838). Gleichfalls war Št. einer der aktivsten Hörer Juraj Palkovičs, der ab 1803 den Lehrstuhl für tschechische Sprache und Literatur führte und nun Št. zu seinem Assistenten erwählte. Um sich für die Nachfolge von Palkovič zu habilitieren, studierte Št. in Halle Philologie und Geschichte (1838-1840). Dort wurde er mit der Phänomenologie des Geistes Georg Hegels vertraut, die sein philosophisches Denken entscheidend bestimmte. Nicht unwesentlich wurde er auch vom Gedankengut Jacob Grimms beeinflußt. Im Jahre 1840 wurde Št. Stellvertreter Palkovičs und übernahm auch die Führung des Slawischen Instituts in Preßburg.
Bereits als Student hatte Št. mehrere Beiträge veröffentlicht in den Zeitschriften ,,Plody “ (Früchte), „Hronka“ (Die Granerin), „Květy“ (Blumen), „Danica Ilirska“ (Der Illyrische Morgenstern), „Letopis Matice Srpske“ (Jahrbuch der Matica Srpska), „Časopis Českého Museum“ (Zeitschrift des Böhmischen Museums) und „Tatranka“ (Die Tatranerin), bei der er auch als Hilfsredakteur wirkte. Vor allem aber war er pädagogisch und organisatorisch tätig, um seine Studenten für seine slowakisch-nationalen und slawophilen Gedanken zu gewinnen. Der wachsende Druck der Magyarisierung (ungarisches Gesetz VI von 1840), dem das slowakische Volk ausgesetzt war, fand in Št. einen entschlossenen Gegner. Er versuchte einerseits durch persönliche Kontakte mit den Führern anderer slawischer Völker der Monarchie den slowakischen Widerstand zu stärken, andererseits durch Veröffentlichungen in deutscher Sprache die europäische Öffentlichkeit über den kläglichen Zustand der Slowaken zu informieren. So schrieb er „Die Beschwerden und Klagen der Slaven in Ungarn über die gesetzwidrigen Uebergriffe der Magyaren. Vorgetragen von einem ungarischen Slaven“ (Leipzig 1843) und „Das neunzehnte Jahrhundert und der Magyarismus. Eine Rechtfertigung des L’udevít Štúr“ (Wien 1845).
Bis 1842 huldigte Št., wie die meisten evangelischen Slowaken, dem sprachlich-politischen „Tschechoslowakismus“. Durch eigene schöpferische Weiterentwicklung der Hegelschen Geschichtsphilosophie sowie durch konkrete politische Erfahrungen kam er zur Einsicht, daß die Slowaken eine besondere, eigenständige Nation bilden, die ihre natürlichen Rechte zu behaupten bzw. zurückzuerobern und zu verteidigen hat. Und da die Sprache für ihn als der entscheidende Ausdruck des Wesens einer Nation galt, entschloß sich Št., die Slowaken durch die Einführung einer gemeinsamen Schriftsprache kulturell zu verselbständigen. Seine in den Jahren 1843-1845 verfaßten Werke „Nárečja slovenskuo alebo potreba písaňja v tomto nárečí“ (Die slowakische Sprache oder die Notwendigkeit in dieser Sprache zu schreiben, Preßburg 1846) und „Nauka reči slovenskej“ (Slowakische Sprachlehre, Preßburg 1846) enthalten: das erste, eine geschichtsphilosophische Begründung und kulturpolitische Rechtfertigung, das letztere die erste Grammatik der auf dem mittelslowakischen Dialekt gegründeten gesamtslowakischen Schriftsprache. Im Jahre 1845 gründete Št. seine eigene politische Zeitung, „Slovenskje Národňje Novini“ (Slowakische Volkszeitung) mit der literarischen Beilage „Orol Tatránski“ (Der Tatra-Adler). Zwei Jahre später, am 30. Oktober 1847, wurde er zum Abgeordneten der Stadt Altsohl (Zvolen, Zólyom) ins ungarische Parlament gewählt. Seine politische Tätigkeit in der Vormärzzeit kann man als demokratisch im liberal-reformistischen Sinne bezeichnen. Št. war für den technisch-wirtschaftlichen Fortschritt und für die soziale Gerechtigkeit vor allem in bezug auf das „gegen den Geist der Menschlichkeit“ feudal verknechtete slowakische Bauerntum. Er wies aber jede Revolution ab. Der Ausbruch der Revolution der europäischen Völker im Jahre 1848 überraschte ihn. Er beteiligte sich dann aber maßgebend an der slowakischen Revolutionsbewegung: von der Versammlung in Liptovský Svätý Mikuláš am 10. Mai 1848, die die „Forderungen der slowakischen Nation“ formulierte, über die Teilnahme am Slawenkongreß in Prag, bis zur Organisation des Slowakischen Aufstandes gegen die magyarische Revolution (November 1848 - März 1849), den er mit Michal Miloslav Hodža und Jozef Miloslav Hurban leitete. Die Gründung des Slowakischen Nationalrates, der am 19. September 1848 in Myjava die slowakische Selbständigkeit und die Lostrennung der Slowakei von Ungarn erklärte, die anfänglichen Erfolge des Aufstandes konnten aber sein endgültiges Scheitern nicht verhindern. Nach der Revolution zog sich Št. ins Privatleben zurück, das durch schwere Verluste gezeichnet wurde: im Jahre 1851 starben sein Bruder Karol und sein Vater; kaum zwei Jahre danach verlor er die Mutter und die Freundin Adela Ostrolúcka. Er übernahm die Sorge um die sieben verwaisten Kinder seines Bruders in Modern und widmete sich seinem literarischen und philosophischen Werk, bis er sich im Dezember 1855 bei der Jagd tödlich verletzte und am 12. Januar 1856 starb. In diesem letzten Zeitabschnitt seines Lebens veröffentlichte Št. „Spevy a piesne“ (Gesänge und Lieder, Preßburg 1853) und „O národních písních a pověstech plemen slovanských“ (Über die Volkslieder und Sagen der slawischen Stämme, Prag 1853). In Handschrift blieb sein wichtigstes geschichtsphilosophisches Werk „Das Slawentum und die Welt der Zukunft“. Bezeichnend für Št.s Gedankenwelt und für das Schicksal des slowakischen Volkes zugleich ist die Tatsache, daß dieses ideologische Vermächtnis eines der bedeutendsten slowakischen Führer des 19. Jh.s bis jetzt nicht in slowakischer Sprache erscheinen durfte. Eine von Mikuláš Gacek vorbereitete und von der Matica slovenská in Turčiansky Svätý Martin gedruckte slowakische Übersetzung (Slovanstvo a svet budúcnosti, 1945) ist vor der Herausgabe beschlagnahmt und verschrottet worden. Es ist auf Russisch (Slavjanstvo i mir buduščago, Moskau 1869 und 1909) und in der deutschen Originalfassung (Preßburg 1931) erschienen.
Literatur
Turtzer[ová-Devečková], H. : Louis Štúr et l’idée de l’indépendance slovaque. Paris 1913.
Osuský, Štefan Samuel: Filozofia štúrovcov. Bd 1. Štúrova filozófia. Myjava 1926.
Hurban, Jozef Miloslav: L’udovít Štúr. Rozpomienky. Turčiansky Svätý Martin 1928 (Bratislava 1959(2)).
Čyževskij, Dmitro: L’udovít Štúrs Philosophie des Lebens. Halle 1938.
Bartek, Heinrich: L’udovít Štúr a slovenčina. Turčiansky Svätý Martin 1943.
Bakoš, L’udovít: L’ŭdovít Štúr ako vychovávatel’ a bojovník za slovenskú školu. Bratislava 1957.
Bujnák, Pavol: Estetické náhl’ady Štúrove. Bratislava 1957.
Kirschbaum, Jozef M[arián]: L’udovít Štúr and his place in the Slavic World. Winnipeg, Cleveland 1958.
Ormis, Ján: Bibliografia L’udovíta Štúra. Martin 1958.
Opet, Delphina M[ária]: Political Views of L’udovít Štúr. In: Slovakia 21 (1971) 20-108.
Polakovič, Štefan: The Ethnical Philosophy of L’udovít Štúr. In: Slovakia 23 (1973) 29-47.
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