Gonatas, Stilianos, griechischer Militär und Politiker, * Patras 15.08.1876, † Athen 29.03.1966.
Leben
Aus einer wohlsituierten Familie mit väterlicherseits militärischer Tradition stammend, schlug G. die Offizierslaufbahn ein. Als junger Leutnant nahm er 1907-1909 am sogenannten „Kampf um Mazedonien" teil. Beim Putsch des grundsätzlich antiroyalistischen „Stratiotikos Sindesmos“ (Militärbund) am 15. August 1909 - „Gudi-Revolution“ genannt - wurde er zum Adjutanten des Putschistenführers Oberst Nikolaos Zorbas ernannt. Er nahm kurz danach an den Balkankriegen ebenso wie an der Expedition gegen Rußland teil; beim Kleinasien-Feldzug wurden ihm hohe Kommandoposten anvertraut - zunächst Stabschef eines Armeekorps, dann Divisionskommandeur und schließlich, im Rang eines Obristen, Kommandeur eines Armeekorps.
Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte G. 1922, als er am 14. November zum Ministerpräsidenten ernannt wurde. - Im September 1922 hat die griechische Armee in Kleinasien kapituliert; somit war die griechische Politik der „Megali Idea“ (Große Idee) endgültig gescheitert - eine Politik, die auf die Wiederherstellung eines Großgriechenlands abzielte, das einen beträchtlichen Teil des früheren byzantinischen Imperiums enthalten sollte. Schon vor der Kapitulation war die Armee in Auflösung begriffen; die unter G. stehenden Einheiten und jene unter dem Kommando von Nikolaos Plastiras waren die einzigen, die bei der Kapitulation noch Zusammenhalt bewahrten und diszipliniert den Rückzug angetreten haben. Infolge der verheerenden Niederlage hat im September 1922 eine Militärgruppe die Macht im Staat übernommen. So wie eine ganze Reihe von Staatsstreichen in der neueren Geschichte Griechenlands hat auch dieser Putsch sich als revolutionär ausgegeben: das von ihm etablierte Regime wird „Epanastasis tu 1922“ (Revolution von 1922) genannt. Dabei handelte es sich allerdings um ein grundsätzlich republikanisch und demokratisch eingestelltes Regime, das zunächst von einem „Revolutionskomitee“ geführt wurde, dem auch G. angehörte. G. hatte sogar am 11./24. September 1922 die „Revolutionserklärung“ allein unterzeichnet. Darin forderten die Militärs in der Hauptsache: a) den Rücktritt des Königs [Konstantin] zugunsten des Kronprinzen [Georg]; b) die sofortige Auflösung der Nationalversammlung; c) die Bildung einer überparteilichen, für die Entente akzeptablen Regierung, die die Durchführung von freien Wahlen vorbereiten sollte. Wegen ihrer republikanischen und demokratischen Grundtendenz hat die „Revolution“ breite Unterstützung in der Bevölkerung gefunden; auch die Kommunisten unterstützten das Militärregime. Unmittelbar nach dem Prozeß und der daraufhin erfolgten Exekution der nach Meinung des Militärgerichts sechs Hauptschuldigen der Niederlage in Kleinasien - bei den Angeklagten handelte es sich durchweg um Politiker bzw. Militärs der Rechten - löste das „Revolutionskomitee“ sich auf. Es wurde eine Regierung unter G. gebildet; Plastiras wurde zum „Archigos tis epanastaseos“ (Führer der Revolution) ernannt.
Zweifellos war Plastiras der eigentliche Lenker, G. eher eine Galionsfigur des Regimes. Seinen Aufstieg zum Ministerpräsidenten verdankte er einerseits seinen unbestrittenen militärischen Verdiensten, andererseits seiner gemäßigten, nach rechts tendierenden politischen Einstellung: indem das Regime ihm das hohe Amt anvertraute, demonstrierte es einen gewissen Pluralismus und fing somit Angriffe der extremen Rechten auf.
Während der Regierungszeit G.’ wurden wichtige Staatsangelegenheiten erledigt, so ist zum Beispiel im Juli 1923 in Lausanne der Friedensvertrag mit der Türkei unterzeichnet worden, wobei die Verhandlungen griechischerseits von Venizelos geführt wurden.
Am 22. Oktober 1923 wurde unter der Führung eines royalistischen Offizierstriumvirats ein Putschversuch unternommen, der sogleich scheiterte. Im Hintergrund dieses Putsches stand der spätere faschistische Diktator (1936-1941) General Ioannis Metaxas.
Die Regierung G. schrieb die von der „Revolution“ versprochenen Wahlen aus. Sie fanden am 16. Dezember 1923 statt und brachten dem „Komma Fileleftheron“ (Liberale Partei) einen großen Erfolg: 250 der insgesamt 397 Sitze. Auch G. wurde gewählt. Er empfahl König Georg II., aus Griechenland „abzureisen“, was dieser am 19. Dezember 1923 auch tat. Der Admiral Pavlos Kunturiotis wurde zum Regenten ernannt, im Grunde jedoch bedeutete die „Abreise“ des Königs die Einführung der Republik, die am 25. März 1924 offiziell proklamiert wurde.
Am 2. Januar 1924 konstituierte sich die Nationalversammlung und zugleich dankte die „Revolution von 1922“ ab; die Regierung G. trat zurück. G. ließ sich vom Militär in den Ruhestand versetzen und wirkte danach als Politiker. Er wurde wiederholt zum Abgeordneten gewählt und hat jeweils für kurze Zeit verschiedene Ministerien übernommen. Vom November 1932 bis April 1935 war er Präsident des Senats. Die Zerstörung des Parlamentarismus und der Republik durch die Vorbereitung und die Errichtung der faschistischen Diktatur 1936 in Griechenland setzte auch dem politischen Wirken G.’ ein abruptes Ende.
In der Zeit der nazistischen Besatzung Griechenlands war G., fast siebzigjährig, die Vertrauensperson der rechten Widerstandsorganisation EDES (Ellinikos Dimokratikos Ethnikos Sindesmos = Griechischer Demokratischer Nationalbund) in Athen. Nach der Befreiung trat er aus der liberalen Partei, deren Gründer Venizelos gewesen ist, aus und gründete 1945 die Splittergruppe „Komma Ethnikon Fileleftheron“ (Nationalliberale Partei). Die Tendenz, die er dieser Gruppe gab, war vom Nationalismus und blinden Antikommunismus geprägt, was in Griechenland nicht nur in jener Zeit - kurz nach dem kommunistischen Aufstand vom Dezember 1944 - einen fruchtbaren Boden fand. Die Gruppe gewann bei den Wahlen vom 31. März 1946 35 Parlamentssitze. Im Januar 1950 ersuchte G. die Liberale Partei, ihn wieder aufzunehmen, was auch geschah. So nahm G. an den Wahlen vom März 1950 als Kandidat der Liberalen Partei teil. 1951 trat G. vom politischen Leben zurück, nachdem ihm die Aufnahme in die Athener Kandidatenliste der Liberalen Partei für die Wahlen vom 9. September 1951 verweigert worden war.
Nach der Verfassungskrise vom Juli 1965 nahm G. in seiner Eigenschaft als früherer Ministerpräsident an der Sitzung des sogenannten Kronrates am 1. September 1965 teil und setzte sich gegenüber König Konstantin II., der die Krise verursacht hatte, für die sofortige Ausschreibung von Parlamentswahlen ein.
G.’ politische Laufbahn ist typisch für die Situation des griechischen Parlamentarismus, dessen Labilität durch den Putsch vom 21. April 1967 erneut demonstriert wurde.
Literatur
O Stilianos Gonatas ke to Komma ton Ethnikon Fileleftheron. Hrsg. Politikon Grafion tu Kommatos Ethnikon Fileleftheron. Athen 1948.
Dafnis, Grigorios: I Ellas metaxi dio polemon. 2 Bde. Athen 1955.
Gonatas, S.: Apomnimonevmata (1897-1957). Athen 1958.
Kordatos, Janis: Istoria tis neoteris Elladas. Bd 5. Athen 1958.
Meynaud, Jean: Les forces politiques en Grèce. Montreal 1965.