Szekfű, Gyula, ungarischer Historiker und Publizist, * Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) 23.05.1883, † Budapest 29.06.1955.
Leben
Sz. entstammte einer stark vom Katholizismus geprägten Intellektuellenfamilie aus Stuhlweißenburg. Seine Gymnasialzeit verbrachte er bei den Zisterziensern. Anschließend studierte er an der Philosophischen Fakultät der Universität Budapest Geschichte und Latein. Als Mitglied des von Baron József Eötvös zur Heranbildung einer Intelligenzelite des Landes gegründeten Kollegiums gewann er eingehende Kenntnisse über die frühe deutsche und französische Geschichtsliteratur. Vorerst wurde er Archivar am Nationalmuseum (1904), später ging er an das Landesarchiv, beides in Budapest, und schließlich an das Haus-, Hofund Staatsarchiv in Wien. Bis zu seiner Berufung als Universitätsdozent (1925) arbeitete er dort als Beamter des gemeinsamen Archives, später als Mitarbeiter der ungarischen Archivsdelegation in Wien bzw. des dortigen ungarischen Geschichtsinstituts.
Sz.s erste Arbeiten lassen ein äußerst starkes Interesse an verwaltungstechnischen Vorgängen und gesellschaftshistorischen Problemen erkennen, was einerseits dem Einfluß von Károly Tagányi zuzuschreiben ist, andererseits dem seiner ungarischen Mitarbeiter am Wiener Staatsarchiv, darunter vor allem Árpád Károlyi. Bedingt durch den Ausgleich von 1867 wurde Sz. zum Propagator jener politisch-historischen Konzeption, nach der sich aus der Geschichte des Ungarntums die Notwendigkeit einer Anlehnung an Habsburg ableiten läßt, zugleich aber Ungarn innerhalb der Monarchie auf konstitutionellem Weg mehr Eigenständigkeit zugesichert werden sollte. Während seine historischen Anschauungen in erster Linie durch die verwaltungshistorische Richtung Gustav Schmollers und Otto Hintzes, später, in den Jahren nach 1910, durch Friedrich Meinecke geprägt waren, stand seine politische Haltung unter dem Einfluß der Politik des Grafen Gyula Andrássy und István Tiszas. Besonders deutlich wird dies bei seinen Werken ,,A számüzött Rákóczi“ (Der verbannte Rákóczi, 1913) und „Der Staat Ungarn“ (1918).
1916 wurde Sz. als Privatdozent an die Universität Budapest berufen. Nach dem Zusammensturz der Monarchie blieb Sz. in Wien. Als er von der Räterepublik zum Professor ernannt wurde, folgte er dem Ruf nicht. Noch während der Revolutionszeit begann er mit der Niederschrift von „Három nemzedék“ (Drei Generationen, 1920), einem Werk, das mehrere Auflagen erlebte. Hierin wird die ungarische Geschichte ab der Mitte des 19. Jh.s mit der Absicht verfolgt, den Ursachen, welche die Revolution (die seiner Ansicht nach eindeutig eine Verfallserscheinung in der ungarischen Geschichte darstellte) sowie den Zusammenbruch des historischen Ungarns bedingt haben könnten, auf die Spur zu kommen. Diese ausgesprochen publizistische Arbeit, von der sich Sz. selbst später absolut distanzierte, wurde zu einem der Grundwerke der offiziell-konservativen Ideologie des Horthyregimes. Seine wissenschaftlichen Werke lassen profunde Quellenkenntnisse und einen sicheren Überblick über die europäische Geschichtsliteratur erkennen, sie zeichnen sich ferner durch ihren, für die damalige Zeit einzigartig schönen Stil, sowie durch den logischen Aufbau ihrer Gliederung aus.
1925 wurde Sz. Professor für zeitgenössische ungarische Geschichte an der Universität Budapest und verfügte in dieser Position über einen weiten Hörerkreis. Gegen Ende der zwanziger Jahre begann er zusammen mit seinem Jugendfreund, dem Mediävisten Bálint Hóman, eine mehrbändige Geschichte Ungarns zu schreiben (Magyar történet, 8 Bände, 1928/34). Ab 1927 gab er die dem Ministerpräsident Graf István Bethlen nahestehende Zeitschrift „Magyar Szemle“ (Ungarische Rundschau) heraus (bis 1938). In seinen publizistischen Schriften entfernte er sich immer mehr von seiner extremen Grundhaltung aus der Zeit nach 1919, bis er in den dreißiger Jahren ein ausgesprochener Anhänger des Antifaschismus wurde. In seinen historischen Essays und Zeitungsartikeln wurde er zum Vertreter bürgerlich-demokratischer Anschauungen, die er aus seiner historischen Sicht darstellte.
Nach der deutschen Besetzung Ungarns tauchte Sz. bis zur Vertreibung der Faschisten unter, um dann als erster Gesandter, später als Botschafter nach Moskau zu gehen (Januar 1946 - November 1948). 1953 wurde er Parlamentsabgeordneter, ein Jahr darauf Mitglied im Präsidialrat. Ab 1925 war Sz. korrespondierendes, ab 1941 ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
Weitere bedeutende Werke von Sz. sind: ,,A magyar állam életrajza“ (Biographie des ungarischen Staates, 1917), „Széchenyi igéi“ (Széchenyis Worte, 1921), „Bethlen Gábor“ (1929), „Három nemzedék és ami utána következik“ (Drei Generationen und was danach kommt, 1934), „Állam és nemzet“ (Staat und Nation, 1942), „Forradalom után“ (Nach der Revolution, 1947) u. a.
Literatur
Pető, Sándor: Szekfű Gyula történetírása. Budapest 1933.
Zoványi, Jenő: Szekfű Gyula és társai történetírása. Budapest 1938.
Németh, László: Szekfű Gyula. Budapest 1940.
Szekfű Gyula a történetíró és nemzetnevelő 60. születésnapjára. Budapest 1943.
Mérei, Gyula: Szekfű Gyula történetszemléletének bírálatához. In: Századok 94 (1960) 180-256.
Pach, Zsigmond Pál: Az ellenforradalmi történetszemlélet kialakulása Szekfű Gyula Három nemzedékében. In: Tört. Szle 5 (1962) 387-425.
Glatz, Ferenc: Szaktudományos kérdésfeltevés és történeti-politikai koncepció. A fiatal Szekfű Gyula bécsi éveinek történetéből. In: Tört. Szle 17 (1974) 395-420.
Dénes, Iván: A realitás illuziója. Budapest 1975.
Glatz, Ferenc: Történetíró, jelenkor, interpretáció. In: Századok 110 (1976) 183-224.