Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas

Venizelos, Eleftherios
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Venizelos, Eleftherios

Venizelos, Eleftherios, griechischer Politiker, * Murnies (bei Chania, Kreta) 23.08.1864, † Paris 18.03.1936, Sohn des Kaufmanns Kiriakos V. (1810-1883), der schon als 15jähriger am griechischen Unabhängigkeitskampf 1821/29 teilgenommen hatte.

Leben

Während des kretischen Aufstandes (1866-1869), an dem sich auch sein Vater aktiv beteiligte, flüchtete V. mit seiner Familie nach Syros, wo er die Volksschule besuchte. 1872 kehrte die Familie nach Chania zurück, wo V. seine Primärschulbildung abschloß. Nach Absolvierung seiner Gymnasialstudien in Athen und Chania kam er im September 1881 nach Athen, wo er an der Universität sein Jura-Studium aufnahm. Nach einem glänzenden Studienabschluß (Januar 1887) kam er nach Chania zurück, wo er sich zunächst als Rechtsanwalt betätigte.
Bei den Wahlen von 1889 zum „Kretischen Parlament“ (Kreta war durch den am 3.10. 1878 in Chalepa bei Chania Unterzeichneten Vertrag eine relative Selbstverwaltung zuerkannt worden) kam er als Abgeordneter des Kydonia-Bezirks ins Parlament und wurde bald als Führer dessen radikalen Flügels, der „Liberalen Partei“, anerkannt. Die nachfolgenden Jahre waren durch die andauernden Kämpfe der griechischen Inselbewohner geprägt, durch die die inzwischen von der Hohen Pforte z. T. außer Kraft gesetzten Autonomie-Bestimmungen zurückerzwungen und erweitert bzw. der Anschluß an Griechenland erreicht werden sollte. Den neuen Wahlen zum „Kretischen Parlament“ 1895 und den aufstandsähnlichen Unruhen der griechischen Kreter im selben Jahr hielt sich V. zunächst fern, am zwei Jahre danach, im Januar 1897, ausgebrochenen Aufstand nahm er jedoch aktiv teil und wurde zum Führer und Organisator der in Akrotiri bei Chania verschanzten Griechen. Trotz der griechischen Niederlage beim darauffolgenden griechischtürkischen Krieg wurde Kreta mit dem Vertrag von Istanbul (4.12.1897) als autonomer Staat anerkannt. Der griechische Prinz Georg, der als erster griechischer Gouverneur am 21. Dezember 1898 nach Kreta kam, nahm auch V. unter seine Mitarbeiter als Justizminister auf. Bald kam es jedoch zwischen dem konservativ-autokratischen Prinzen und dem demokratisch-liberalen Volkstribun anläßlich der Ausarbeitung einer Staatsverfassung zum Bruch, so daß V. am 8. März 1901 den Dienst quittieren mußte. V.’ Opposition gegen Prinz Georg mündete in den Aufstand vom 23. März 1905 in Therissos (Kydonia-Bezirk), bei dem der Anschluß an Griechenland verlangt wurde. Nach dem Rücktritt von Prinz Georg und dessen Ersetzung durch Alexandros Zaimis (24.09.1906) führte V. seinen Kampf fort und proklamierte am 12. Oktober 1908, im Einvernehmen mit der griechischen Regierung, die Vereinigung Kretas mit Griechenland (der Anschluß wurde erst am 14.11.1913 völkerrechtlich anerkannt). Dem provisorischen kretischen Regierungsausschuß gehörte V. zunächst als Außen- und Justizminister, dann, nach den Wahlen vom März 1910, als Premierminister an.
Inzwischen war am 28. (15.) August 1909 in Athen der Aufstand des „Militärbundes“ (Stratiotikos Sindesmos) ausgebrochen, der sich die bürgerlich-demokratische Reorganisierung der Armee und des Staates zum Ziel gesetzt hatte. Auf der Suche nach einem politischen Führer lud der „Militärbund“ V. nach Athen ein. Er kam am 23. Januar 1910 in Athen an, nahm an Gesprächen mit den Militärführern und König Georg I. zur Lösung des politischen Problems teil (er schlug die Gründung einer neuen, demokratischen Partei und die Einberufung eines Revisionsparlaments vor) und kehrte nach der Bildung der provisorischen Regierung unter Stefanos Dragumis (2.02.1910) nach Kreta zurück. Bei den Wahlen vom 21. August 1910 zum griechischen Revisionsparlament wurde V. in Abwesenheit (er hielt sich z. Z. in Lausanne auf) zusammen mit einer Gruppe von Anhängern des Militärbundes zum Abgeordneten von Attika gewählt. Nach einem kurzen Aufenthalt auf Kreta kam er am 18. September 1910 nach Athen, wo er als großer Volksführer empfangen wurde.
Am 12. Oktober 1910 trat das Kabinett Dragumis zurück, und V. wurde vom König mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt (15.10. 1910). In ihr bekleidete er neben dem Amt des Ministerpräsidenten auch die beiden Kriegsministerposten. Die neuen Wahlen vom 24. Dezember 1910 brachten ihm einen einmalig großen Sieg ein (die von ihm geführte „Liberale Partei“ gewann 300 der insgesamt 364 Parlamentssitze, und der Sieg wurde bei den Wahlen vom 25.04.1912 zum „normalen“ Parlament wiederholt). Diese erste Regierungszeit des V., die mit einer kurzen Unterbrechung bis 1920 dauerte, war durch ein umfangreiches, wenn auch gemäßigtes, Reformwerk auf allen Gebieten gekennzeichnet, das die Grundlagen zu einem modernen bürgerlichen Griechenstaat legte, auch wenn es infolge der Balkankriege nur zum Teil verwirklicht werden konnte. Unter V.’ Führung revidierte die Nationalversammlung (Januar-Juni 1911) die alte Verfassung aus dem Jahre 1864 und begründete zum erstenmal die Bürgerrechte und die Unkündbarkeit der Staatsbeamten. Die Justiz wurde reorganisiert und liberalisiert und das Erziehungswesen popularisiert (obligatorische, allgemeine und kostenlose Primärbildung). Die Landwirtschaft wurde durch die Gründung von Landwirtschaftsschulen gefördert und der landwirtschaftliche Kleinbesitz besser geschützt (u. a. Enteignung großer Latifundien in Thessalien und Verteilung von Parzellen an besitzlose Kleinbauern, Gewährung von Staatsanleihen). Die Gewerkschaften wurden auf eine moderne Basis gestellt (Ausschluß der Unternehmer aus den Arbeiterorganisationen). Das Militärwesen wurde gestärkt und reorganisiert - die Marine durch englische, das Heer durch französische Experten. Allerdings führte die Heranziehung ausländischer Experten (außer in der Armee auch auf dem Gebiet des Finanzwesens und der Landwirtschaft) und die immer größer werdende Einfuhr ausländischen - vor allem englischen und französischen - Kapitals zur späteren starken ökonomischen und politischen Abhängigkeit des Landes von den europäischen Mächten. In der Außenpolitik profitierte V. von der Wendung der englischen und französischen Politik in der „Orientalischen Frage“ gegen die Türkei, und, die alten Gegensätze mit den nördlichen Nachbarn überwindend, trat dem gegen die Türkei gerichteten Balkanpakt bei (am 29.05.1912 Unterzeichnete er einen bilateralen Vertrag mit Bulgarien, das mit Serbien vertraglich verbunden war). Durch die zwei Balkankriege (Oktober 1912 - Mai 1913 mit den alliierten Balkanländern gegen die Türkei bzw. Juni-August 1913 geführt von Griechenland und Serbien gegen Bulgarien zur Verteilung der erbeuteten Gebiete) vergrößerte Griechenland mit dem Bukarester Abkommen vom 10. August 1913 seinen geographischen Raum um 68% (41933 Quadratmeilen gegen 25 014 Quadratmeilen) und seine Bevölkerung um 67% (4363000 gegen 2666000 Einwohner).
Der Erste Weltkrieg spaltete die politischen Kräfte Griechenlands in zwei Lager. König Konstantin I., der seinem am 18. März 1913 ermordeten Vater Georg I. gefolgt war, trat für die Neutralität ein, die jedoch zugunsten der mitteleuropäischen Mächte ausfallen mußte (Konstantin war mit der Schwester des deutschen Kaisers Wilhelm II. verheiratet), während V. auf den Eintritt Griechenlands in den Krieg auf der Seite der Entente hin drängte (der Vertrag mit Serbien sah einen griechischen Beistand im Falle eines bulgarischen Angriffs vor), ohne jedoch feste Zugeständnisse zugunsten der griechischen Ansprüche von seiten der Entente erhalten zu haben. Die Auseinandersetzung führte zunächst zum Rücktritt von V. (6.03.1915), der durch den Konservativen Dimitrios Gunaris ersetzt wurde (9.03.1915). V. erlangte jedoch bei den Wahlen vom 13. Juni 1915 erneut die absolute Mehrheit und bildete zwei Monate später ein neues Kabinett. Als er schließlich die Landung der Truppen der Entente in Saloniki genehmigte, wurde er vom König am Tag des bulgarischen Angriffs gegen Serbien (6.10. 1915) zum Rücktritt gezwungen. V. enthielt sich aus Protest der am 19. Dezember 1915 durchgeführten neuen Parlamentswahlen. Der König nahm darauf Gespräche mit den mitteleuropäischen Mächten auf, und in deren Folge drangen deutsch-bulgarische Truppen im Frühling 1916 in Makedonien ein. V. und seine Anhänger reagierten mit der Bildung einer Gegenregierung („Regierung der nationalen Abwehr“) in Saloniki (9.10. 1916), die sich auf die Seite der Entente schlug, während die Flotte der Entente die griechischen Häfen blockierte (November 1916). Die Royalisten antworteten mit der Mobilmachung und der Verfolgung der Venizelisten in Athen (November-Verfolgungen). Die Mächte der Entente verstärkten im nächsten Jahr den Druck auf Konstantin, der zum Rücktritt gezwungen und von seinem Sohn Alexander I. ersetzt wurde (12. VE 1917). Mit Hilfe der Entente-Truppen gelangte V. wieder an die Macht (14. VE 1917), worauf Griechenland auf der Seite der Entente in den Krieg eintrat. Nach der für die Entente und deren Verbündete siegreichen Beendigung des Krieges wurde Griechenland mit dem Vertrag von Neuilly (27. XE 1919) Westthrazien und mit dem Vertrag von Sévres (10.08.1920) Ostthrazien, die Inseln Imbros und Tenedos und der Izmir-Bezirk in Kleinasien zuerkannt. Inzwischen waren am 14. Mai 1919 im Einvernehmen mit der Entente griechische Truppen zur Durchsetzung der griechischen Forderungen auf der kleinasiatischen Küste gelandet und hatten Izmir besetzt.
V., der sich zur Friedenskonferenz in Frankreich aufhielt, konnte einem von zwei griechischen Offizieren auf der Gare de Lyon in Paris auf ihn verübten Attentat unversehrt entkommen und nach Athen zurückkehren, wo die Gegensätze mit den Royalisten neu aufflammten. Bei den Wahlen vom 14. November 1920 mußte er eine schwere Niederlage hinnehmen (seine Gegner waren mit Antikriegsparolen aufgetreten), und drei Tage später begab er sich ins freiwillige Exil nach Paris. Die Royalisten setzten König Konstantin wieder auf den Thron und führten den Krieg in Anatolien trotz ihrer Wahlversprechen fort. Nach einem erfolgreichen Vormarsch nach Osten wurden die griechischen Truppen jedoch von den unter Kemal Atatürk stehenden türkischen Truppen bei Sakarya total auseinandergetrieben (23.08.1922) und mußten unter großen Verlusten ganz Kleinasien und Izmir räumen (September 1922). Daraufhin putschten Venizelos-treue Offiziere unter General Nikolaos Plastiras auf Chios und Lesbos, zwangen König Konstantin, zugunsten seines Sohnes Georg (II.) abzudanken (14.09.1922) und verurteilten sechs als Hauptverantwortliche für die Niederlage betrachtete Politiker und Generäle zum Tode (November 1922).
Die zum 2. Januar 1924 einberufene Nationalversammlung holte am 4. Januar 1924 V. aus seinem Exil nach Athen zurück und wählte ihn zu ihrem Präsidenten. Da V. jedoch die rivalisierenden Flügel seiner Partei nicht einigen konnte, demissionierte er einen Monat später (4.02.1924), um am 10. April 1924 Griechenland von neuem zu verlassen. Die radikalen Demokraten unter Alexandros Papanastasiu gewannen die Oberhand in der Nationalversammlung und riefen am 25. März 1924 die Republik aus, die jedoch von autoritären Militärputschen geplagt wurde (25.06.1925-22.08.1926: Diktatur von General Theodoros Pangalos, der von General Georgios Kondilis „abgelöst“ wurde). Mitten in der Krise wurde V. (er weilte seit dem 20.04.1927 in seiner Heimatstadt Chania) noch einmal als deus ex machina nach Athen berufen. Bei den Pariamentswahlen vom 19. August 1928 errang seine Partei einen überwältigenden Sieg, worauf V. seine letzte Regierung bildete, die mit einer kurzen Pause bis zum 25. September 1932 dauerte. In dieser Zeit konzentrierte V. seine Tätigkeit hauptsächlich auf die Lösung der außenpolitischen Probleme (Vertrag mit der Türkei vom 10.06.1930; Besuch in Ankara im selben Jahr; Verträge mit Bulgarien und Jugoslawien 1930-1932 zur Regelung der Minderheitenfrage in Mazedonien und Thrazien). In der Innenpolitik konnte er jedoch mit Ausnahme einer auf der Strecke gebliebenen Reformierung des Erziehungswesens (Minister: Georgios Papandreu) keinen Erfolg verbuchen - im Gegenteil: Die Auflösung seiner Partei in rivalisierende Gruppen schritt weiter fort und mündete in eine Spaltung in kleinere Parteien, die Wirtschaftsskandale und die Korruption erschütterten die Grundlagen des Staates (1.05.1932: Staatsbankrott), während die Verabschiedung harter Sondergesetze und die Eröffnung von Konzentrationslagern zur Bekämpfung der politischen Gegner (1929) auch die letzten Überbleibsel der demokratischen Errungenschaften seiner ersten Regierungszeit rückgängig machten. Die neuen Wahlen vom 25. September 1932 und vom 5. März 1933 brachten keiner der bürgerlichen Splitterparteien eine starke Mehrheit ein, und die herrschenden korrupten Gruppen führten das Land durch neue Militärputsche (März 1933: Putsch der Venizelisten; März 1935: neuer Putsch der Venizelisten und Republikaner unter General Nikolaos Plastiras, nach dessen Scheitern V. über Kasos und Neapel nach Paris entfliehen konnte) folgerichtig einige Monate nach dem Tod des V. in Paris (18.03.1936) zur Diktatur von General Ioannis Metaxas (4.08.1936).

Literatur

Driault, Édouard und Michel Lhéritier: Histoire diplomatique de la Grèce de 1821 à nos jours. Bd 5. Paris 1926.
Papantonakis, Georgios: I politiki stadiodromia tu Eleftheriu Venizelu. Athen 1929.
Alastos, Doros: Venizelos. Patriot, Statesman, Revolutionary. London 1942.
Petrakakos, Dimitrios: Kinovuleftiki istoria tis Ellados. Bd 7. Athen 1944.
Purnaras, Dimitrios: Eleftherios Venizelos. 4 Bde. Athen 1958/62.
Manolikakis, Leonidas (Hrsg.): Eleftheriu Venizelu mnimi (Afierósis ston Venizelo). Chania 1964.
Stefanu, Stefanos (Hrsg.): Eleftheriu Venizelu ipothike. 2 Bde. Athen 1965/69.
Vakas, Dimitrios: Eleftherios Venizelos. I zoi ke to ergon tu. Athen 1965.
Ventiris, Georgios: I Ellas tu 1910-1920. Athen 1970(2).
Purnaras, Dimitrios: I mikrasiatiki katastrofi ke i dimokratia. Bd 3: Eleftherios Venizelos. Athen 1973.

Verfasser

Georg Veloudis (GND: 124116787)


GND: 118804146

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Empfohlene Zitierweise: Georg Veloudis, Venizelos, Eleftherios, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Bd. 4. Hgg. Mathias Bernath / Karl Nehring. München 1981, S. 405-409 [Onlineausgabe]; URL: https://www.biolex.ios-regensburg.de/BioLexViewview.php?ID=1841, abgerufen am: (Abrufdatum)

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