Zavitzianos (Zavitsianos, Zavitsanos), Konstantinos, griechischer Politiker, * Korfu 1878, † Athen 28.06.1951
Leben
Z. stammt aus einer angesehenen Korfioter Familie, aus der Ärzte und Naturwissenschaftler hervorgingen; sein Vater Georgios (1845-1916), Physiklehrer an der Kaiserlichen Akademie in Istanbul, später in Griechenland, liberaler Demokrat, warb nach dem kretischen Aufstand von 1889 im Ausland für das Selbstbestimmungsrecht der Inselbevölkerung und polemisierte gegen den Antisemitismus (s. sein Traktat „Aktis fotos, iti o diogmos ton Evreon en ti istoria“ [Lichtstrahl, oder die Judenverfolgung in der Geschichte]).
Z. studierte in Athen Rechte, promovierte, war 1901-1905 auf Korfu als Anwalt tätig und schlug dann die Richterlaufbahn ein. Der Sturz des letzten Kabinetts des Charilaos Trikupis, die Niederlage im leichtsinnig heraufbeschworenen Krieg gegen die Türkei 1897, die schleichende innenpolitische Krise und die Internationale Finanzkontrolle waren die prägenden politischen Erfahrungen seiner Jugendjahre. Als Mitbegründer des Vereins für Erziehungsfragen (Ekpedeftikos Omilos) unterstützte er dessen Forderung nach Reformen im Schulwesen und der Einführung der Volkssprache im Unterricht. Nach längerem Studienaufenthalt in Italien und Frankreich schloß er sich 1910 Eleftherios Venizelos an. Als unabhängiger Kandidat für das Erste Verfassungsändernde Parlament schlug er 1910 den Parteiführer Georgios Theotokis in dessen Heimatwahlkreis Korfu, im Zweiten Revisionsparlament 1911 wurde er Sekretär des Verfassungsausschusses. Er gehörte zu den Mitbegründern der Partei der Liberalen und trat in der Kammer mit linksliberalen Forderungen (Freiheit der Sprache statt Fixierung der katharevusa als Amtssprache durch die Verfassung, Bodenreform, sozialpolitische Maßnahmen zugunsten der Unterschichten, Koalitionsfreiheit und Ausweitung der anderen Freiheitsrechte) hervor. Trotz der Loyalität gegenüber der Parteiführung behauptete er stets eigenständige Positionen. Als Vierunddreißigjähriger wurde er 1912 einer der jüngsten Parlamentspräsidenten der griechischen Geschichte. Dank seiner Initiative beseitigte ein Gesetz im selben Jahr die Relikte feudaler Abhängigkeit der Bauern auf Korfu. In dem großen Verfassungskonflikt zwischen den Liberalen und König Konstantin I. in der Frage des Eintritts Griechenlands in den Ersten Weltkrieg verurteilte Z. die verfassungswidrige Intervention des Königs in die Regierungsgeschäfte, distanzierte sich aber auch von den Methoden des Venizelos und der Einmischung der Entente; der Bewegung der Nationalen Verteidigung, die zur Bildung einer Gegenregierung in Saloniki durch Venizelos führte, schloß er sich nicht an. Im September 1921 mißlang sein Versuch, eine dritte Partei zwischen den beiden verfeindeten Lagern zu gründen. Nach dem Rücktritt des Kabinetts des Dimitrios Gunaris 1922 nahm die Regierung des Nikolaos Triantafil-lakos seine Bedingungen für die Übernahme eines Ministeriums (Entschärfung des innenpolitischen Konfliktes und Wiederherstellung guter Beziehungen zur Entente durch Ermächtigung des Venizelos zur Vertretung der griechischen Interessen im Ausland; Abdankung Konstantins I.) nicht an, gleichermaßen lehnte das Militärregime des Nikolaos Plastiras und des Stilianos Gonatas seine Forderung ab, eine Regierung auf breiter Basis zu bilden. Mit demselben Motiv, zur innenpolitischen Entspannung beizutragen und außenpolitische Schwierigkeiten zu vermeiden, lehnte er 1922/23 eine Änderung der Staatsform ab. Als Zeuge im Prozeß gegen die Politiker der Jahre 1920/22 bestritt er, daß deren politische Verantwortung für die Niederlage eine Schuld im strafrechtlichen Sinn erweise.
Am 16. Dezember 1923 wurde er gegen seinen Wunsch in die Nationalversammlung gewählt, verbrachte aber wegen schwerer Krankheit die meiste Zeit im Ausland. Einen Auftrag des Theodoras Tangalos zur Regierungsbildung 1926 legte er nieder, weil der Versuch, durch die Regierungsbeteiligung der Liberalen den Weg zur Demokratie zu öffnen, aussichtslos erschien. Venizelos, für dessen Rückkehr Z. sich in der Hoffnung auf innere Stabilisierung eingesetzt hatte, berief ihn in die am 4. Juli 1928 vereidigte Regierung als Innenminister. In kurzer Zeit setzte Z. dem Räuberunwesen ein Ende. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme glaubte er jetzt durch Freiheitsbeschränkungen leichter lösen zu können: Im Unterschied zu anderen Liberalen wandte er sich gegen die Einführung des Frauenwahlrechts und gegen das Streikrecht in lebenswichtigen Branchen wie z.B. im Bäckergewerbe, dessen streikende Angehörige er dienstverpflichten und durch Militärtribunale aburteilen lassen wollte (Praktika Vulis, periodos B, sinodos A, Sitzung vom 14.11.1928). Mit seinem Namen ist der Erlaß des Staatsschutzgesetzes gegen Vereinigungen zum gewaltsamen Umsturz und zur Abtrennung griechischen Territoriums verbunden, mit dem er vor allem die KPG und ihre Propaganda in der mazedonischen Frage treffen wollte. Da Venizelos ihm Andreas Michalakopulos für den Posten des stellvertretenden Ministerpräsidenten vorzog, trat Z. am 3. Juli 1929 zurück und gründete die „Politische Progressive Union“ (Politiki Proodeftiki Enosis), die in den Wahlen von 1932 kein Mandat erhielt. Am 30. März 1933 wurde er in den Senat gewählt. Sein pessimistisches Urteil über die Zukunft der in den Konflikten 1933-1936 auseinanderbrechenden Gesellschaft entwickelte er schließlich zu radikaler Kritik am liberalen System weiter: Die Wettbewerbswirtschaft habe zur Orientierung am individuellen Vorteil als höchstem Wert, zur Mißachtung des allgemeinen Nutzens und zum sozialen Krieg geführt. Dem wegen der Verstaatlichung der Produktionsmittel und der Aufhebung der Freiheit gleichfalls verurteilten kommunistischen System und dem liberalen Staat stellte er die ständestaatliche Konzeption einer durch autonome berufsständische Organisationen mit Zwangsmitgliedschaft sich selbst regulierenden, bedarfsorientierten Wirtschaft gegenüber. Als stellvertretender Ministerpräsident, Finanz- und vorübergehend auch Wirtschaftsminister unter der Diktatur des Ioannis Metaxas setzte er Steuererleichterungen für Bezieher kleiner Einkommen durch und rechnete mit dem Ausgleich sozialer Spannungen durch den Wirtschaftsaufschwung, der durch Streiks nicht mehr gestört werde (vgl. dazu seine Studie ,,I chreokopia tu kefa- leokratismu ke tu sosialismu ke to neofileleftheron ikonomikon sistima, Athen 1948). Da er aber das ständestaatliche Programm nicht durchsetzen konnte, trat er im Januar 1937 zurück. Als Gouverneur der Nationalbank (1941-1943) widersetzte sich Z. mutig den Forderungen der Besatzungsmächte. Seine Erinnerungen an den Verfassungskonflikt zwischen Venizelos und Konstantin I. gehören zu den wichtigsten Quellen für die Vorgänge der Jahre nach 1915 (E anamnisis tu ek tis istorikis diafonias vasileos Konstantinu ke Eleftheriu Venizelu opos tin ezise, 1914-1922, Athen 1946).